Veni, Vidi, Gucci
diesem Moment entgegengefiebert. Was passt mir also nicht?
»Sollen wir los?«, fragt Richard.
»Ich hole noch kurz Myra«, sagt Molly. »Ich möchte sie mitnehmen, okay, Mummy?«
Myra, die behinderte Flickenpuppe. Heute Morgen hatten Molly und ich ein Gespräch wegen ihr. Ich erklärte Molly, dass Myra wegen ihrer Behinderung nicht ausgeschlossen werden dürfe und dass man ihr häufiger unter die Arme greifen müsse. Gut, Myra kann man nur noch unter einen Arm greifen, aber Molly nahm sich meine Worte dennoch zu Herzen. Ich hoffe, sie erinnert sich auch noch in zwanzig Jahren an diese wichtige Lektion fürs Leben, wenn ihre Mutter in einer Nervenheilanstalt ist, weil sie ihren Verstand versoffen hat und ihre Leber durch jahrelangen Alkoholmissbrauch irreparabel geschädigt ist ...
Erst jetzt fällt es mir auf.
Wann habe ich eigentlich das letzte Mal Alkohol getrunken?
Das haut mich jetzt aber von den Socken. Ich habe keinen Tropfen mehr angerührt seit ... Verflucht, wann war das? Montagmittag. Das Gläschen Wein bei Sureya in der Küche, und das ist fast volle fünf Tage her. Und in der ganzen Zeit habe ich nicht einmal an einen Drink gedacht.
Natürlich – genau wie im Krankenhaus, als ich merkte, dass ich lange keine mehr geraucht hatte und instinktiv zur Schachtel griff – bekomme ich bei dem Gedanken an einen Drink sofort Lust auf ein Glas Wein. Aber daraus wird nichts. Erstens ist es dafür viel zu früh. Und zweitens werde ich meinen Sohn zu dem bislang wichtigsten Ereignis in seinem Leben begleiten. Dafür muss ich einen klaren Kopf behalten. Trotzdem frage ich mich, wie ich das geschafft habe. Wie konnte ich fast eine ganze Woche überstehen – und was für eine Woche! – ohne einen einzigen Tropfen Alkohol?
Vielleicht lag das daran, dass ich zur Abwechslung einmal mit den Problemen anderer Leute beschäftigt war statt mit meinen eigenen. Wer weiß? Ich bin schließlich keine Psychotante ...
Aber der bloße Gedanke, dass ich so lange auf Alkohol verzichten konnte, entlockt mir innerlich ein Lächeln. Äußerlich offenbar auch, weil Richard fragt: »Was amüsiert dich denn so?«
»Nichts«, entgegne ich. »Fertig?«
»Ja, ich geh nur noch mal kurz pinkeln. Ihr könnt ja schon in den Wagen steigen. Der Autoschlüssel liegt auf dem Küchentisch.«
Während Richard zur Toilette geht, suche ich vergeblich seinen Schlüsselbund. Ich nehme seine Lederjacke von der Stuhllehne und durchsuche die Taschen. Ich entdecke tatsächlich die Schlüssel, aber auch etwas anderes. Etwas, das sich hart anfühlt. Ich ziehe es aus der Jackentasche hervor.
Ein kleines Schmuckkästchen aus schwarzem Samt. Da kann eigentlich nur ein Ring drin sein.
Das ist es also, was so dringend ist. Das ist es, was er bei Bel abgeben muss. Oh Gott, er wird ihr doch nicht ... einen Heiratsantrag machen? Mein Kopf dreht sich, mein Magen genauso. Weil ... Scheiße ... Die Erkenntnis überrollt mich wie ein Güterzug. Unsere Ehe. Das war’s. Vorbei. Ganz offiziell.
Ich höre das Rauschen der Toilettenspülung, aber ich kann mich nicht von der Stelle rühren. Ich stehe wie erstarrt da, das Schmuckkästchen in der ausgestreckten Hand, als wäre es an mir festgeklebt. Ich schüttle mich einmal energisch und versuche mich aus meiner Starre zu lösen. Dann stecke ich das Schmuckkästchen wieder zurück in Richards Jackentasche und klimpere geräuschvoll mit seinem Schlüsselbund. »Kommt, Kinder, wir müssen los!«, brülle ich.
Fick dich, Richard, fick dich ins Knie. Heute ist Thomas’ großer Tag. Ich werde nicht zulassen, dass du ihm diesen Tag versaust. Und was mich betrifft, nun, ich kann mir immer noch später über meine Gefühle Gedanken machen.
Richard gesellt sich zu uns in die Diele. Ich werfe ihm seine Jacke zu, und wir verlassen alle vier gemeinsam das Haus. Ich will gerade die Tür hinter mir zuziehen, als mit einem Mal das Telefon klingelt.
»Lass, darum kann sich der Anrufbeantworter kümmern«, sagt Richard und wirft einen nervösen Blick auf seine Uhr.
»Das könnte Sureya sein«, entgegne ich.
»Okay, wir warten im Wagen auf dich.«
Ich gehe zurück ins Haus und nehme den Hörer in der Diele ab.
»Ich bin’s«, sagt Summer.
»Hi, willkommen zurück. Seit wann bist du wieder da?«
»Seit gestern Nachmittag. Ich wollte dich bereits gestern Abend anrufen, aber du weißt ja, der Jetlag.«
»Hör mal, wir wollen gerade los.«
»Ach so ... gut ... sorry. Geh nur.«
Und in diesen sechs Worten schwingt
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