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Venice Beach

Venice Beach

Titel: Venice Beach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Besson
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völlig überwältigt, ein Bild der Niederlage, der Vernichtung, wie würde man darauf reagieren? Hätte man Mitleid mit mir in dieser jämmerlichen Lage, käme man mir zu Hilfe, fasste man mich unter die Achseln, um mich hochzuheben, mich wieder aufzurichten? Oder wäre man im Gegenteil peinlich berührt von diesem Zusammenbruch und der Ansicht, dass ich schließlich nichts anderes verdiente? Und ließe mich dort, einsam und elend, in dieser Erschlaffung, in der ein Zittern meinen ganzen Körper schüttelt, das einzige Zeichen, dass ich noch lebe?
     
    Schließlich richte ich mich auf. Es erfordert übermenschliche Kräfte. Ich habe das Gefühl, mein Gerippe sei tonnenschwer. Ich klammere mich am Waschbecken fest, ziehe mich am zerkratzten Email hoch und hebe langsam den Kopf. Da sehe ich mein Gesicht im Spiegel des Arzneischranks. Ich zwinge mich zu dieser Gegenüberstellung mit mir selbst. Ich weiche nicht aus. Ich weiß, dass ich jammervoll aussehe, und erhalte die Bestätigung. Ich sehe die müden Züge, die vorzeitige Alterung, die Bartstoppeln auf den Wangen, die fettigen Haare, die an den Schläfen kleben, und ich frage mich, wie Jack dieses Gesicht einmal hat lieben können, wie er es mit seinen Küssen hat übersäen können.
     
    Ich kehre ins Zimmer zurück, ich öffne die Vorhänge, um die Morgensonne hereinzulassen, ich schiebe das Fenster hoch. Manchmal bemerkt mich ein Nachbar und wendet den Blick ab. Wahrscheinlich handelt es sich um einen schamhaften Reflex oder ganz einfach um eine gleichgültige Geste, und doch erkenne ich darin eine gewisse Abscheu.
     
    Ich schleppe mich ein oder zwei Stunden unangekleidet herum und begegne meiner Nacktheit im spiegelnden Fenster. Ich mag meinen Körper nicht mehr. Dabei hat er sich gar nicht so sehr verändert. Die bleiche Magerkeit ist immer noch dieselbe. Aber er gehört nicht mehr mir. Er gehört niemandem mehr, seit er nicht mehr ihm gehört.
     
    An den Tagen, an denen es mir wirklich schlecht geht, öffne ich sogar die Kommodenschublade, in der sich die Fotos von Jack stapeln. Ich blättere in ihnen, bis mir übelwird. Beim ersten Ansehen finde ich sie falsch. Ich will damit sagen: Sie haben etwas von ihm festgehalten, was nicht er ist, sie sind eine Lüge. Und dann bin ich froh, einer der wenigen zu sein, die in der Lage sind, diese Lüge zu entdecken, die Wahrheit hinter der Täuschung zu erkennen. Ich betrachte die Abzüge genau, und ich erinnere mich an die zuweilen auftretende Panik seines Blickes, an das Beben seiner Nasenflügel, seine leicht geöffneten Lippen, das Pochen seiner Halsschlagader, das Hüpfen seines Adamsapfels, die Rundung seiner Schultern, den Druck seiner Arme. Die Fotos fangen dies alles nicht ein, sie deuten es von Zeit zu Zeit an, ihnen fehlt die Tiefe, die Sinnlichkeit. Ich schließe die Schublade mit einem trockenen Knall. Ich schlüpfe in eine Jeans und in ein T-Shirt , ohne mir die Mühe zu machen, mich zu duschen. Ich werde mich in die Achterbahn von Venice Beach stürzen.

 
    McGill war enttäuscht. Die Untersuchung ging nicht so schnell voran, wie er es sich wünschte. Wir hatten anfangs wirklich professionell und erfolgreich gearbeitet, aber das Glück kam uns, wie ich schon befürchtet hatte, nicht zu Hilfe. Alle Videos, die in den benachbarten Villen eingesammelt und von den Mitarbeitern ausgewertet worden waren, ergaben nichts. Man erkannte darauf nur endlose feststehende Einstellungen oder ein An- und Abfahren von Autos und Lieferwagen oder eilige beziehungsweise langsame Schritte anonymer Fußgänger. Aber nicht den geringsten Mörder. Nicht den kleinsten Überfall. Man hätte an Los Angeles verzweifeln können. Kein Zeuge hatte sich spontan gemeldet, und wir zogen ernsthaft in Erwägung, eine Prämie auszusetzen, um eventuelle Mitwisser zu Aussagen zu verlocken oder gewisse Gedächtnisse aufzufrischen. Die Befragungen der Kumpels von Billy hatten letztlich auch keine neuen Erkenntnisse gebracht. Man schilderte uns einen netten, etwas bekloppten, etwas manisch-depressiven Jungen. Es hieß: »Er war anbetungswürdig, ein vom Himmel gefallener Engel, und immer zu Diensten.« Wir hörten auch: »Er war eine echte Nervensäge und ein Blitzableiter für Katastrophen.« Und zweifellos ergänzten sich diese beiden auf den ersten Blick widersprüchlichen Porträts. Sie ergaben ein psychologisches Profil, das möglicherweise nicht unwichtig war, unsjedoch in unserer Untersuchung nicht weiterhalf. Man hätte schwören

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