Venice Beach
deren Entlassung vorbereitet wurde. Man nahm Zeugenaussagen auf. Man schritt zu den üblichen Überprüfungen. Man ließ ein paar zusätzliche Polizisten in den Straßen patrouillieren, zur Beruhigung. Nichts von Bedeutung.
Ich bin beinahe sicher, dass ich meinen Job korrekt gemacht habe. Und vielleicht sogar mehr als das. Ich konzentrierte mich auf das, was man mir berichtete, gab Anweisungen, stellte Informationen zusammen, übermittelte meine Berichte ans Bürgermeisteramt, man konnte mir nichts vorwerfen. Niemand hätte vermuten können, was sich am vorangehenden Wochenende ereignet hatte. Und es war nicht einmal eine Leistung. Es war, als ob ich alles vergessen hätte.
Ich litt eigentlich nicht. In Wirklichkeit hatte ich einen Entschluss gefasst, ohne ihn so zu formulieren. Ich wollte Jack Bell aus meinem Dasein verbannen. So tun, als ob nichts gewesen wäre. Die zweiundsiebzig Stunden für immer tilgen. Mein normales Leben wiederaufnehmen. Tief in meinem Innern dachte ich wohl: Dieser Seitensprung ist unerklärlich, ein Einzelfall, er hat nichts mit mir zu tun, er ist absurd, fassen wir ihn einfach so auf. Ich war überzeugt, dass er keine unbekannten Seiten von mir offenbarte und daher folgenlos wäre. Oder vielmehr, ich überredete mich zu dieser Überzeugung. Ich versuchte,mich an diese durch Überlegung gewonnene Gewissheit zu klammern. Ich berief mich auf meine kurzzeitige Unzurechnungsfähigkeit und gestand mir die Lust nicht ein, die aus den Tiefen aufgestiegen war.
Jacks Schweigen bestärkte mich. Es bedeutete, dass auch er beschlossen hatte, alles zu vergessen. Dass er zwangsläufig und mühelos wieder zu dem zurückgekehrt war, was seine Tage ausmachte. Sicher hatte er wieder mit der mageren Rothaarigen angebändelt. Zweifellos hatten ihn die Produzenten belagert. Und Journalisten und Freunde. Er war wahrscheinlich zu Empfängen und Voraufführungen gegangen. Er bemühte sich notgedrungen um neue Projekte. Man empfahl ihm Drehbücher. Er war hellwach und verfügbar.
Es war gar nicht so kompliziert.
Und dann war die Abwesenheit da, in dem Augenblick, als ich am wenigstens damit rechnete, als ich meiner Amnesie fast traute. Die Attacke der Abwesenheit ist fürchterlich. Sie erfolgt ohne Vorwarnung. Der Angriff ist beim ersten Mal heimtückisch, man spürt nur einen lebhaften Schmerz, der unmittelbar danach fast verschwindet, er ist kurz, flüchtig, wirft einen nieder, aber man richtet sich gleich wieder auf, man denkt, der Angriff sei vorüber, ist nicht einmal in der Lage, diesem Einbruch einen Namen zu geben, und warum sollte man ihn auch benennen, man hat kaum Zeit gehabt, sich zu beunruhigen, alles ist so schnell vorübergegangen, man fühlt sich schon viel besser, fühlt sich sogar sehr gut, und dennoch bleibt eine unangenehme Erinnerung an diesen Bruchteil einer Sekunde zurück, man versucht, die Erinnerung zu vertreiben, und es gelingt einem, das Leben geht weiter, die Welt ruft uns, dringende Angelegenheiten warten. Und dann wiederholt es sich am nächsten Tag, die Attacke ist länger oder heftiger, man bekommt weiche Knie, man verzerrt das Gesicht, man sagt sich: Im Innern arbeitet irgendetwas, man denkt an jene Hirnschläge, die einen Tumor ankündigen und das sichtbare Signal für bisher unerkannte Metastasen sind, man empfindet eine widerwärtige Angst, eine böse Vorahnung. Und dann wird der Schmerz quälend, er macht sich breit wie ein Eindringling, den man nicht mehr verjagen kann,er ist weniger stechend und geht tiefer, man begreift, dass man ihn nicht mehr loswerden wird, dass man erledigt ist. Ja, eines Tages war die Abwesenheit da. Seine Abwesenheit.
Anfangs habe ich getan, als bemerkte ich sie nicht, indem ich ihr Gleichgültigkeit und Verachtung entgegenbrachte, ich glaubte, ich sei stärker als sie, ich sei in der Lage, sie zu überwinden, sie zu beseitigen, es sei nur ein Frage des Willens und der Zeit, ich war nicht so gebaut, dass ich mich von einer so winzigen, lächerlichen Sache umwerfen ließ. Und dann musste ich mich von den Tatsachen überzeugen lassen: Ich war nicht auf dem Weg, dieses Spiel zu gewinnen, ich würde es vielleicht sogar verlieren, und ich vermochte nicht, dieser Niederlage zu entkommen, und je mehr ich kämpfte, umso mehr Boden verlor ich; je mehr ich die Wirklichkeit leugnete, umso mehr sprang sie mir ins Gesicht. Bis ich endlich einsah: Seine Abwesenheit verzehrte mich.
Ich machte verzweifelte Gesten. Ich sage:
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