Venit. Die Akte Veden: Thriller (Filii Iani-Trilogie) (German Edition)
Crawn.«
Crawn kam auf die Beine. »Natürlich.« Er ging aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
»Du hast fünf Minuten, um dich zu erklären«, sagte sein Vater.
Chest starrte in das bärtige Gesicht des Mannes, der ihn gezeugt, und mit dem er so viel Ähnlichkeit hatte. Er hatte seine klaren blauen Augen, das dichte, blonde Haar, die hohe Stirn und die gerade, schlanke Nase. Er hatte seinen Ehrgeiz, wenngleich sich dieser auf andere Art äußerte. Und er hatte seine Kaltherzigkeit, doch auch diese trat auf andere Weise zutage.
»Alle haben verdient, was sie bekommen haben«, sagte Chest leise, aber bestimmt. »Jeder einzelne. Ich bin auf dieser Welt, um den Menschen zu bringen, was sie verdienen. Eure Redlichkeit ist nicht echt; meine ist wahrhaftig. Ihr habt kein Rückgrat; meines ist aus Stahl. Ihr lebt im moralischen Graubereich; ich trenne Schwarz von Weiß konsequent.«
Er sah die Faust seines Vaters kommen, fast in Zeitlupe auf sich zurasen, doch er wich nicht aus. Er hörte ein Knacken, dann schoss ihm eine Blutfontäne aus der Nase. Chests Kopf wurde herumgerissen. Er fiel vom Stuhl. Vor seinen Augen explodierte die Realität, verzerrte sich und färbte Raum und Zeit schwarz. Er schmeckte sein eigenes Blut. Er wurde gepackt, auf die Beine gezogen, und das nächste, das er sah, war die näherkommende Tischkante. Chest konnte spüren, wie sich auf seiner Stirn die Platzwunde auftat. Die Haut riss auf wie ein unter Spannung stehender Papierbogen. Blut lief ihm in die Augen.
›Wehr dich!‹, kreischte Hora in Gedanken. ›Mein Gott, du bist ihm überlegen! Wehr dich! Schlag ihm den Schädel ein!‹
›Nein‹, antwortete er benommen.
Chest lag inzwischen erneut auf dem Boden. Er röchelte, um nicht am Blut zu ersticken. Immer wieder spuckte er aus, denn durch die Nase war kein Atmen mehr möglich.
»Jetzt zeig mir, wie du mit deinen Gedanken lenkst!«, höhnte sein Vater über ihm. »Hindere mich doch daran, das zu tun!«
Ein Tritt traf ihn direkt unter die Rippen. Chest bekam für ein paar Momente gar keine Luft mehr. Er krümmte sich, versuchte zu atmen, spürte eine innere Explosion an brennendem Schmerz und wehrte sich gegen die drohende Ohnmacht.
›Das ist nicht richtig‹, sagte Hora. ›Du darfst so etwas nicht durchgehen lassen. Nicht du, Chest.‹
›Ich werde meine Rache bekommen. Der Tag, an dem mein Vater nicht mehr gebraucht wird, ist nah.‹
Hora schwieg.
Chest versuchte, sich aufzurappeln, doch es gelang ihm nicht. Er konnte nichts sehen, sein Gesicht war blutverschmiert. In seinem Kopf wurde sekündlich ein neues Feuerwerk gezündet, bestehend aus Schmerz, Schwärze und dem Wunsch, bewusstlos zu werden.
Aber er konnte fühlen, was vor sich ging: Seine Mutter saß über ihm, still, aufrecht und kalt auf ihn hinabblickend. Sie würde keinen Finger rühren, um ihm auf die Beine zu helfen. Sein Vater stand irgendwo im Zimmer und rieb sich die Knöchel an der Hand, mit der er zugeschlagen hatte.
»Bessere dich, mein Sohn«, hörte er irgendwann seine Mutter sagen.
Anschließend waren sie weg. Crawn kam herein, sah ihn liegen, betrachtete Chest einen Moment lang und ging schließlich hinaus, um den Notarzt zu rufen.
›Wie oft hat er das schon getan?‹
Chest starrte auf die Weißdecke hinauf. Er lag auf einer Pritsche im Krankenhaus. Irgendwo in einem anderen Bett heulte ein Junge.
Die Nase war operiert worden. Die Platzwunde mit mehreren Stichen genäht. Die Milz war gerissen und in einer Not-OP behandelt worden. Er hatte mehrere Rippenbrüche.
›Er macht es jedes Mal, wenn wir uns treffen.‹
›Du lädst große Schuld auf dich, wenn du ihm das erlaubst.‹
Chest schwieg lange, ehe er fragte: ›Was genau meinst du damit?‹
Hora hörte sich amüsiert an. ›Beginnst du, dich dafür zu interessieren?‹
›Crawn sagte, ich hätte eine natürliche Begabung, was die Imagination betrifft. Was genau hat es damit auf sich?‹
Hora kicherte. ›Crawn ist ein Trottel. Er kennt sich zwar mit den Dingen aus, aber das Ganze überblickt er nicht. Er hat nicht die leiseste Ahnung, wozu du fähig bist, Chest, sonst hätte er dich längst getötet.‹
›Er kann mich nicht töten.‹
›Nein. Jetzt nicht mehr.‹
›Was ist also mit dieser Schuld?‹
›Nun, du hast es selbst zu deinen Eltern gesagt: Du bist hier, um das zu bringen, was in der Vergangenheit verdient wurde. Du bringst die Bezahlung, Chest. Aber du bist nicht immun.‹
Chest schloss die Augen.
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