Venus
betonen.
Daniel H. Boone stammt nämlich aus Brooklyn, das, wie er findet, im Unterschied zu Manhattan, das echte New York ist. Er ist Abkömmling einer irisch-katholischen Einwandererfamilie. Sein Urgroßvater war Polizist, sein Großvater war Polizist, sein Vater war Polizist, und so hat sich auch für ihn nie die Frage gestellt, aus der Familientradition auszuscheren. Dabei war er immer ein weiches Kind, weiß und weich wie ein Engerling, mit rosigen Bäckchen, als hätte er Backpfeifen empfangen, mit spärlichem Haarwuchs, der nie für einen Bart reichte. Da seine Mutter früh an einem Herzinfarkt starb, wuchs Daniel H. Boone bei Annie auf, einer resoluten deutschstämmigen Esoterikerin mit grauem Dutt und Brille auf der Nasenspitze. Annie war über sieben Ecken mit ihm verwandt und wurde von allen nur »Muhme Annie« genannt.
Schon in der Schule war Boone ein Beobachter, ein Träumer, und immer für sich. Die Mädchen gefielen ihm ausnehmend gut, aber er fühlte sich ihnen nicht gewachsen. Er wagte sich nie an sie heran, und dabei blieb es, als er längst erwachsen war. Boone blieb ein Träumer. Boone blieb ein Junggeselle, und seine Muhme Annieblieb die einzige Frau in seinem Leben, bis zu ihrem späten Tod mit 99 Jahren.
Sein ganzes Leben lang steht Boone nun schon im Dienst der New Yorker Polizei, fünfundzwanzig Jahre davon ist er bei der Mordkommission, und all die Jahre erscheinen ihm kurz wie ein Wimpernschlag. Er selbst sieht in seinem Spiegelbild immer noch den eigenbrötlerischen dicklichen weichen Jungen von damals, nur, dass ihm inzwischen die Haare ausgegangen sind. Wenn es nach Boone ginge, könnten weitere dreißig Jahre ebenso vergehen, aber es geht nicht nach ihm. Vor kurzem ist sein verlässlicher Lebenstrott zum zweiten Mal nach Annies Tod erschüttert worden. Er soll sein Junggesellenapartment in SoHo zum Monatsende verlassen. Die Miete für sein Studio, die anfangs 209 Dollar betragen hatte, war in den Jahren stetig gestiegen und betrug inzwischen fast das Zehnfache. Er kann sich seine Bude nicht mehr leisten. Er fliegt raus. Er muss sich etwas Billiges suchen. Immerhin ist er ein angehender Rentner, und bald wird er von seiner schmalen Beamtenpension leben müssen. Sehr bald.
Boone hat, wie es seine Art ist, eine Wand seines Büros mit allen verfügbaren Fotos von Opfer und Tatverdächtiger gepflastert. Er hat ein fotografisches Gedächtnis, er kann mit Fällen zusammenhängende Erinnerungen im Nachhinein zurückspulen wie Magnetbänder. Die Annäherung an einen neuen Fall, wenn er wie ein Blinder die neue Umgebung abtastet, ist für ihn die glücklichste, die intensivste Zeit. Er spürt, riecht, spinnt. Er löst sich auf. Er ist nichts als Vermutung. Dieser Zustand ist wie Balancieren auf einem Drahtseil ohne Netz. Jeder neue Fall ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Doch es ist immer dasselbe: Je näher Boone der meist prosaischen Wirklichkeit kommt, desto betrübter wird er. Nicht nur, weil, wie er gelernt hat, die Wirklichkeit nicht viel mit der Wahrheit zu tun hat, sondern weil die Wirklichkeit meist einen hochgradig niederschmetternden Effekt auf ihn hat. Denn es ist ähnlich wie in der Liebe, sagt sich Boone, 62 Jahre alt, unverheiratet: Kein echter Kuss ist ideal. Nur der in meiner Phantasie erzeugte Kuss ist ideal. Der echte Kuss, so gut er ist, wird immer verdorben durch allerlei Einflüsse. Bei Küssen kann er das nur annehmen. Bei Fällen weiß er das.
Während das Lösen eines Falles für andere Kollegen einem herzhaften Nieser, einem guten Schiss oder gar einem Orgasmus gleichkommt, bedeutet es für Boone Zusammenbruch und Enttäuschung. In diesen Momenten wird ihm klar, dass er den traurigsten Beruf der Welt hat. Er macht es eben nur für die Anfänge. Und dies ist der letzte Anfang, der Anfang vom letzten Fall.
Boone sitzt auf seinem Drehstuhl aus Plastik, schwingt leise quietschend hin und her, mustert durch die Glasscheibe seiner Bürowand die Kollegen draußen, junge kraftstrotzende wie geleckt aussehende Männer, die zwischen Funktelefon und Computer hin und her eilen, die Knarre im Holster, mit T-Shirt und Sakko, wie in Miami Vice . Die Invasion der Yuppies, nennt das Boone. Es sind Menschen wie diese, die nicht nur sein Büro bevölkern, sondern die auch in Wohnungen wie seine ziehen, Wohnungen, die frei werden, weil Menschen wie er die Miete nicht mehr zahlen können. Seit er einen neuen Chef hat, Captain Kelly, den Ober-Yuppie, sind die alten
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