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Venus

Venus

Titel: Venus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Buschheuer
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nennen. Auch lässt dieser wenig zärtliche Kosename die Möglichkeit zu, dass sie ihn ermordet hat, eine Tat, die auch ihr Black-out erklären würde. Den Schock. Den einem Mord nachfolgenden Schock, der immer noch anhält. Die Ratte. Das ist ihr eingefallen. Nur diesen einen Ziegelstein haben wir gelockert in der Mauer in ihrem Kopf. Es ist ja nicht so, dass wir unsere handelnden Figuren um ihrer selbst willen quälen. Wir lieben unsere Sommergeschichte. Wir mögen jede darin agierende Figur. Wir haben sogar Mitleid, als wir auf das Häufchen Unglück heruntersehen, das unsere Heldin ist, und erwägen kurzzeitig ein Happyend.
    Unsere Venus liegt so, bis ihr Blick sich in einer Gestalt fängt, die keine fünf Meter entfernt hockt. Es handelt sich um einen kleinen alten Mann im schmuddeligen Lendenschurz mit langen, grauen, verfilzten Haaren,der unbeweglich in die Sonne starrt. Sie schreckt auf und zeigt in die Richtung des Alten: »Da ist jemand!«
    Mau winkt ab. »Das ist nur Sun Baba. Der sitzt hier immer.«
    »Aber«, flüstert sie, »der hat sicher alles gehört.«
    »Der hört nix«, sagt Mau. »Der guckt immer nur in die Sonne.«
    Unsere Venus sieht die weißmilchigen tränenden Augen des Greises. Das ist ja ekelhaft, würde sie normalerweise denken, so gut kennen wir sie schon, wenn sie nicht so aufgewühlt und schockiert wäre von den neuesten Entwicklungen.
    Einen Mord zu begehen, jemanden mit dem Messer zu durchlöchern wie ein Sieb, das ist wirklich ekelhaft, das ist zutiefst abscheulich, denkt sie. Dagegen ist dieser zerlumpte Grashüpfer geradezu harmlos.
    Mau bewegt sich auf den winzigen, dürren, alten Mann zu, nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette – er hat sich inzwischen schon die dritte angezündet, wer weiß, wann er wieder dazu kommt – und bläst dem Alten den Rauch mitten ins Gesicht. »Siehst du?«
    Es erscheint uns angebracht, obwohl wir hier ungern unterbrechen, an dieser Stelle rasch Sun Babas Geschichte zu erzählen.
Sun Baba
    Die ersten neunzig Jahre seines Lebens verbrachte Sun Baba in Varanasi, der Stadt seiner Vorfahren, jenem heiligen Platz in Nordindien, in den nach der Legende Shivas Urblitz gefahren war und der auch Kashi genannt wurde, »Stadt des Lichts«. Schon als kleiner Junge baute er Tempel aus Lehm und betete Shivaan. Er wuchs heran, arbeitete im Reis-Export, gründete eine Familie, träumte aber immer von spiritueller Erfüllung.
    Als er seinen Traum mit dreißig wahr machte und Sadhu wurde, ein heiliger Mann, gab er zugleich seine Erinnerungen auf. Sein irdisches Leben – ausgelöscht. Seine Karriere – vorbei. Seine Probleme – verschwunden. Es gab keine Bindungen mehr, keinen Kontakt zu den Angehörigen, keine Anhaftung. Seine Eltern, seine Geschwister, seine Frau und seine Kinder, sie alle sahen ihn niemals wieder und schickten sich darein.
    Die ersten Jahre seiner Askese verbrachte Sun Baba auf einem Banyan-Baum, einmal am Tag schickten ihm mildtätige Spender einen Korb mit Reis und Wasser per Flaschenzug hinauf. Da er aber an Wadenkrämpfen zu leiden begann und überdies in einen lästigen Nachbarschaftsstreit mit dem Sadhu auf dem Baum nebenan verwickelt wurde, zog er im dritten Winter ans Ufer des Ganges um.
    Von da an pflegte Sun Baba auf einer der untersten Stufen des Dashaswamedh Ghat zu sitzen, einer der aus grobem Stein gehauenen Treppen, die direkt in den Fluss hineinführen.
    Er begann jeden Tag mit einem rituellen Feuer und einer Waschung. Er aß eine Banane, die ihm Gott täglich auf unterschiedlichen Wegen als Nahrung angedeihen ließ und die er danklos entgegennahm, und starrte in die Sonne, das kosmische Feuer, das Herz des Himmels, den Mund des Feuergottes Agni.
    Wie selbstverständlich hatte er diese Form der Meditation für sich entdeckt, seinen ihm vorbestimmten Weg, um Samsara, die Kette der ewigen Wiedergeburt,zu durchbrechen und das Nirvana zu erreichen. Bald begannen unaufhörlich Tränen aus seinen Augen zu rinnen, als körperliche Reaktion auf die tägliche Tortur, sodass Touristen dachten, der alte spärlich gekleidete Mann weine. Aber er weinte nicht. Er war ja nicht traurig. Er war auch nicht fröhlich. Er war einfach.
    Sun Baba saß Monate und Jahre und Jahrzehnte auf den untersten Stufen des Ghat und starrte in die Sonne, er würde auch noch heute auf den untersten Stufen seines Ghat sitzen und in die Sonne starren, wenn er nicht nach und nach zur Attraktion von Varanasi geworden wäre, wenn er nicht in internationalen

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