Venus
heißt für Durchschnittsmenschen Fünfzig-fünfzig-Chance. Für notorische Glückspilze heißt es Siebzig-dreißig-Chance. Für weitgehend glücklose Menschen wie ihn heißt es jedoch Zehn-neunzig-Chance. In diesem wahrscheinlichen Fall würde das bedeuten, dass er dem Tempelpräsidenten mit der hohen Erpressungsqualität, dem Sklavenhalter mit den Argusaugen, dem mit dem Elefantengedächtnis und der größten Macht im Haus in die Arme liefe.
Mau entscheidet sich trotz Leibesfülle und Kurzatmigkeit für die Treppe. Der Lift könnte zur Falle werden, die Treppe ließe aber immer einen Fluchtweg offen, um eine etwaige Begegnung zumindest drastisch zu verkürzen. Er stopft die Zeitung unter sein XXL-Shirt, wo sie inmitten all der wogenden Rundheit schwer erklärbare Kanten macht, aber für den flüchtigen Blick eines Entgegenkommenden mit etwas Glück unsichtbar bleibt. Natürlich! Toga springt ihm entgegen, zwei Stufen nehmen seine flinken Beinchen auf einmal. Sein Fragen-Vorwurfs-Geflecht aus wasmachstdusospätdraußenhastdudieheiligenstatuenschlafengelegthastdugerauchtichmussnachhermalmitdirsprechenundübrigensaberdashatzeitweilichgradkeinezeithabeweildasmotelvollistweilichdasbettneubeziehenmussteweilduesversprochenundnichtgemachthattestweilichdengastzurückrufenmussteweilduesgesagtundnichtgemachthastweilicheinfachwilldassdudichunbefriedigtfühlstweilichmichunbefriedigtfühleweilicheinfachwilldassdudichalsderdienerdesdienersdesdienersfühlst weilichmichalsderdienerdesdienersfühle überhört Mau. Er ist glücklich, etwas an Toga vorbeischmuggeln zu können.
Und noch bevor er überhaupt versucht, das Petzen zu erwägen, spürt er, mitten auf der Treppe, mitten in seinen Eingeweiden, um wie vieles heißer die Verschwiegenheit in seinen fetten Lenden brennt.
Wir folgen Mau in Venus’ Zimmer, er wird von dieser bereits ungeduldig erwartet. Sie will ihm die Zeitung entreißen, aber er flüstert, sie seien im Zimmer nicht sicher. Er wisse einen Platz, sagt er und führt die Ungeduldige die Treppen hoch aufs Dach.
Mau öffnet die knarrende Stahltür zum Dach der Kirche, wobei er sich ganz schrecklich auffällig benimmt. Oben angekommen, in brütender Mittagshitze, umfangen vom Manhattans Panorama, für das unsere Venus in diesem Moment allerdings vollkommen blind ist, entreißt sie ihm das Boulevardblatt, und während sie liest, blüht der Klatschmohn wieder an ihrem Hals. Maus leicht schräg geschlitzte Augen hinter dicken Brillengläsern hängen an ihren, die sich Zeile um Zeile bewegen. An der Höhe ihrer Lider kann er sehen, was sie grade liest, er kann es auswendig, sodass er synchron seine Lippen bewegt.
Mord in Midtown. Millionenerbe erstochen. Putzfrau machte den grausigen Fund. Die Hauptverdächtige: seine Geliebte, ein Fotomodel.
Ging es um Geld, um Eifersucht, um nackte Lust? John Goldstein war jedenfalls an diesem Tag nicht mit seiner Frau, Effi Goldstein, zusammen, sondern mit ihrer gemeinsamen engen Freundin Verena Palmen, und er war nackt.
Fortsetzung Seite drei.
Bis zu diesem Moment kann Mau außer Angespanntheit nichts im Gesicht der Venus erkennen, nicht einmal ein Zucken, als sie ihren Namen liest. Auch die Mohnblumen sieht er nicht wachsen, da ihr Hals durch die Zeitung verdeckt ist. Beide denken dasselbe, sie hoffend, er befürchtend: Ist das gar nicht ihr Name? Ist sie es doch nicht? Handelt es sich um eine Doppelgängerin, eine Verwechslung, ein vertauschtes Foto?
Dann aber blättert sie um und stößt einen leisen Schrei aus. Sie lässt die Zeitung fallen, die vom lauen Sommerwind, der auch neugierig ist, einige Meter weitergetragen wird. Auf Seite drei ist ein Foto des Toten, eines aus besseren Tagen, da er noch lebte, und er sieht aus, als habe er nicht schlecht gelebt: in jedem Arm ein Mädchen, gebräuntes Gesicht, dunkler Schopf, teurer Haarschnitt, Grübchen.
»Die Ratte«, flüstert unsere Venus und sinkt auf die heiße Dachpappe, wo sie ganz klein wird und grau und krumm. Die Zeitung liegt auf dem Boden, die Titelseite wird wieder zugeweht, und wir erkennen unter Venus’ Titelfoto den neuen Namen, den die Boulevardpresse unserer Heldin zugedacht hat, ein Name, den unsere Venus vermutlich bis an ihr Lebensende nicht mehr loswerden wird, so oder so: das Steakmessermodel .
Während Maus Gedanken in respektvollem Abstand um die Formulierung »nackte Lust« kreisen, ist Venus ihrem Tiefpunkt ein Stück näher gekommen. Sie kennt den Toten, gut genug offenbar, um ihn »Ratte« zu
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