Venus
Gesichter nach und nach verschwunden, und Boone selbst beginnt, sich wie einSchönheitsfehler zu fühlen, ein Überbleibsel aus den Siebzigern. Er trägt billige Bundjacken und schwarze Oberhemden, die er im Dutzend kauft, da er zu starker Transpiration neigt. Er hat immer ein Wechselhemd im Büro, auf Schwarz sieht man die Schwitzflecken am wenigsten.
Er betrachtet jedes Foto an der Wand einzeln, schließt zwischendurch die Augen und denkt sich eine Geschichte dazu aus. Es ist jedes Mal eine andere Geschichte, abhängig von der Anzahl der Informationen, abhängig auch von seiner Stimmung, vom Wetter, von der politischen Weltlage, von der Qualität des Kaffees, von einigem und vielerlei und letztlich allem.
Jetzt hat er also hier einen reichen Tunichtgut, der erstochen worden ist mit viel zu vielen Stichen, von denen zumindest die letzten 35 vollkommen sinnlos waren, weil schon die ersten drei das ihre getan hatten. Die messerführende Person war Rechtshänder. Keine Fingerabdrücke. Keine Tatzeugen. Ein Mann ist getötet worden von jemandem, der sehr wütend gewesen sein muss, sehr emotional, vielleicht sogar von Sinnen. Getötet mit einem Steakmesser, was beweist, dass der Mensch vom Steak nicht allzu weit entfernt ist. In Schicksalsmomenten. Wenn es um die Wurst geht.
Boone betrachtet die Fotos des Opfers. Er trinkt aus einem braunen Pappbecher. Der Kaffee ist kalt. Er verzieht das Gesicht. Dieser junge Mann hat eindeutig zu viele Komplimente gehört in seinem kurzen Leben. Und er hat sie alle geglaubt.
Sicher, er ist ohne Frage attraktiv. Er hat zum Beispiel schönes volles Haupthaar, das muss Boone, der die Glatze auf seinem Oberkopf mit drei langen quer geklebtenSträhnen seines Haarkranzes kaschiert, neidlos anerkennen. Aber was hat der Tunichtgut jetzt von seinem schönen vollen Haupthaar? Tot ist er. Mausetot.
Boone betrachtet das Foto der Tatverdächtigen. Er grabbelt seinen Doppelwhopper aus der Tüte. Der ist auch kalt, aber Boone verschlingt ihn gierig. Ein Mannequin läuft auf ihn zu, dezent geschminkt, pastell gefärbt ist sie wie eine Apfelblüte. Er kann kaum Lippen ausmachen im blassen Gesicht. Sie trägt Kleidung von einem Designer namens Marc Jacobs, dessen Name an einem Vorhang hinter dem Laufsteg prangt. Boone kennt den Designer nicht. Er kennt überhaupt keine Designer. Er kauft seine Kleidung bei Kmart.
Die junge Frau trägt eine Frackhose mit Frackgürtel, eine weiße ärmellose Bluse, aus der nackte, dünne, fast ebenso weiße Arme kommen, um deren Handgelenke weiße Manschetten geschlungen sind wie Armbänder. Ärmel gibt es nicht. Die ganze Frau ist so weiß-rosé, die Haare, die Haut, die Bluse. Er spürt die Schwingung ihrer Schritte, das leichte Wogen unter dem gestärkten Leibchen. Er schließt die Augen. Er legt ihr das Steakmesser in die schmale weiße Hand. Es fällt immer wieder heraus.
Aber wir sind nur auf einen Sprung vorbeikommen. Unsere Sommergeschichte spielt in der Tempelkirche zum heiligen Franz, und dahin müssen wir rasch wieder zurück, müssen sie erreichen, bevor Mau mit der Zeitung auf unsere Venus trifft.
Der nimmt sich indessen Zeit, der Lümmel.
Ganz außer Atem sind wir, ganz umsonst, denn er steht auf der Avenue B, eine Seerobbe vor einer Betonzapfen-Kirche,hat sich eine taufrische Marlboro angesteckt und starrt durch seine dicke schwarze Hornbrille auf die Titelseite der New York Post. Er zieht den Rauch ein, mit fast verzweifelt wirkender Kraft, als wäre es Crack.
Das ist sie! Er hat sie ja gerade noch gesehen! Junge hübsche Frau mit knabenhafter Figur. Platinblonde, nein, weißblonde Haare, genau! Auf dem Foto trägt sie ein blaues Kleid, aber es ist dem roten, das sie in Wirklichkeit trägt, ähnlich, jedenfalls vom Aspekt der Spärlichkeit her. Hat dieses bleiche Deckchen einen Mord begangen? Kaum zu glauben, dass ein so blutarmes verhungertes Ding gewalttätig werden kann, schon gar nicht so, dass kaum ein Tropfen in dem Mann verbleibt. Blutneid? Eifersucht? Perversion? Eine heilige Aufregung überfällt Mau, und der Impuls, ihre Seele zu retten, ist fast noch größer als der, unsere Venus zu verraten.
Mau zwingt sich zur Ruhe und betritt mit der Zeitung unterm Arm den Tempel. Als er sich klar macht, dass er nach Zigarette riecht, dass er zudem etwas Verbotenes unterm Arm trägt, muss er eine Entscheidung treffen: Fahrstuhl oder Treppe. Er weiß, dass er eine Fünfzigfünfzig-Chance hat, Toga in die Arme zu laufen. Fünfzigfünfzig-Chance
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