Venus
engen, miefigen, unaufgeräumten Moloch mit seinen klirrend alten Wintern und den glühend heißen Wüstensommern. Aber er hasst auch den Rest der Welt, insofern ist es gleich, wo er ist. Er findet die englische Sprache scheußlich, aber er findet auch andere Sprachen scheußlich. Er kann Schwule nicht leiden, er hat was gegen Ausländer. Er empfindet Religiosität als Beleidigung seiner Intelligenz, aber er hat auch die Gottlosigkeit draußen satt.
Er blickt auf alles und jeden herab, auch auf sich selbst, aber das am wenigsten.
Unsere Venus mustert, unempfänglich für seine Reize, Benitos frühwelke Lippen. Präzise gesagt, ist unsere Heldin unempfänglich für jedermanns Reize, wenn er nicht Bliss Swami heißt. Dessen schweren sinnlichen Mund sieht sie, wann immer sie die Augen schließt. Sein Mund ist so gar kein Mönchsmund, denkt sie. Ob er je eine Frau geküsst hat? Benitos Mund, der gerade mit schleppendem italienischem Akzent irgendetwas erzählt, hat mit Sicherheit oft geküsst. Vielleicht zu oft. Vielleicht zu oft ohne Liebe. Wenn man ohne Liebe küsst, denkt Venus, schrumpfen die Lippen. Unwillkürlich berührt sie ihre eigenen.
»Wo ist der Bliss Swami?«, hört sie sich fragen.
Kuki wirft einen Blick auf die Uhr, die überm Schreibtisch hängt.
»Im Regenbogensaal. Dienstags leitet er die Abendzeremonie.«
Regenbogensaal ist der von Toga entwickelte politisch korrekte Name für das Kirchenschiff, damit sich keine Glaubensrichtung auf den Schlips getreten fühlt. Venus springt auf, stürzt dabei fast den Tisch um, entschuldigt sich halbherzig und verschwindet.
Da Benito und Kuki einander nicht ausstehen können, ist damit das ohnehin schwächelnde Tischgespräch ganz beendet.
Venus eilt hinunter zum Regenbogensaal. Sie stellt ihre Billigschuhe neben andere Billigschuhe in ein kleines, weißes, dilettantisch gezimmertes Regal. Sie zuckt zusammen, als sie im Vorzimmer zwei Gestalten mit geschlossenen Augen und verfilzten Dreadlocks im Schneidersitz auf zwei Stühlen hocken sieht. Wie es ihr scheint, sind es Zwillinge, die wie Puppen dasitzen, mit schmalen Hand- und Fußgelenken, mit weißen durchsichtigen Häuten wie riesengroße Föten. Der Anblick erschreckt unsere Venus und fasziniert sie zugleich. Und auch wir sehen die beiden mit Abscheu und Zärtlichkeit an.
Winter/Alien
Der Cousin und die Cousine aus Florida sind das merkwürdigste Paar, das die Welt je gesehen hat. Als Kinder waren sie kleine, zarte, verhuschte Wesen mit instabilen Brustkörben, die, als hätten sie sich verabredet, immer bleich geblieben waren inmitten der sonnengebräunten Gleichaltrigen, immer dünn geblieben waren, während anderen Muskeln wuchsen, immer beieinander und einander ähnlich und gemeinsam isoliert geblieben waren wie die schwachen Kinder eines Wurfes, die irgendwann verhungern und von den Eltern aufgefressen werden.
Winter, ein Junge, fühlte als Mädchen. Alien, ein Mädchen, fühlte als Junge. Beide liebten einander vom ersten Tag, blieben unzertrennlich, als hätten sie keine andere Wahl, als seien sie durch eine unsichtbare Nabelschnur miteinander verbunden. Und durch ebendiese Nabelschnur floss Winters Geschlecht in Alien, floss Aliens Geschlecht in Winter. Beide wurden von ihren Familien – die Mütter waren verschwistert – erst voneinander fern gehalten, dann nicht mehr ernst genommen, schließlich vergessen. Mit 15 flohen sie, vagabundierten durchs Land und fanden schließlich einen willigen Arzt in L.A. , der bereit, ja sogar hoch motiviert war, alles Nötige zu veranlassen. Winter und Alien verschrieben sich einem wissenschaftlichen Versuch, um die Operationen zu finanzieren. Das Forschungsprojekt wollte messen, was bei einer kreuzweise vorgenommenen Geschlechtsumwandlung eines zweiten Grades verwandten Paares von der Liebe übrig bleibt. Begleitend trieben sie mit ihrer schaurig-schönen Liebesgeschichte Honorare in TV -Shows ein, welche die Operationen mit laufenden Kameras begleiteten. So wurde Winter zur Frau gemacht, Silikonkissen unter ihre Brustmuskeln gestopft, der ungeliebte Penis entfleischt und als Hautschlauch nach innen zur Vagina umfunktioniert. Alien indessen wurde zum Mann hergerichtet, die Brüste amputiert, eine Penisund Hodenplastik modelliert, Hormone brachten bald die ersten Barthaare zum Vorschein, die Flüsterstimme sank ein wenig, Kleidung und Gang wurden vom Probanden rasch angepasst.
Indem aber das Mädchen Alien zum Jungen wurde und der Junge Winter zum Mädchen,
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