Venus
sitzt auf der Treppe, in einer Decke gehüllt. Sie entschuldigt sich mehrfach. Es ist, als entschuldige sie sich für ihre Existenz.
Winter sieht aus wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist: lieb, dünn, schädelig, mit Habichtnase und vielen langen, hoffnungslos verfilzten Zöpfen. Venus spürt ihre Verlorenheit, unterdrückt aber den Impuls, stehen zu bleiben und mit Winter zu reden. Sie fühlt sich selbst verloren. Sie hat selbst Probleme. In dieser Welt zu leben, heißt zu leiden. Das ist nun mal so. Da muss Winter halt durch.
Als Venus mit bleierner Müdigkeit in den Gliedern ihr Zimmer betritt, sieht, wie Bringfriede im Dämmerlicht mit weiten hochgerutschten Hosenbeinen, die den Blick freigeben auf ihre Vogelwaden, auf dem Kopf steht, öffnet sich unten die Haustür, und Kuki führt den derangierten Daniel H. Boone herein.
6 Manieren
Toga, der in embryonaler Körperstellung im selbst gezimmerten Bett liegt und von seinem glorreichen Einzug auf dem himmlischen Planeten träumt, schreckt, von Kukis Rufen aufgeweckt, hoch. Da er nicht nur der Diener des Dieners ist, sondern gleichzeitig auch ein Vorbild, wohnt er in einem wirklich mistigen Verschlag. Seinen eigenen Hausregeln folgend, verzichtet er auf jegliche Privatsphäre. Er lässt die Zimmertür jederzeit weit offen, denn er hat nichts zu verbergen, und auch potenzielle Diebe sind Geschöpfe Gottes, von diesem selbst geschickt, um zu testen, ob man etwa weltlichem Besitz anhafte. Seine Ehefrau hat er ein Stockwerk tiefer untergebracht. Beide vermeiden es, sich gegenseitig im Zimmer des anderen aufzusuchen. Sie treffen sich ausschließlich in unverdächtigem, bevölkertem Ambiente, in der Kirche, im Goldbrokatraum, oder sie erledigen gemeinsam mit den Fahrrädern in der Stadt diverse Besorgungen.
»Ein Notfall«, flötet Kuki munter, ohne sich für die Störung zu entschuldigen.
Der Tempelpräsident springt aus dem Bett, schlaftrunken, aber umgehend, mit nacktem, fast durchgehend behaartem Oberkörper, nur mit einer luftigen Herrenunterhose bekleidet, auf der Santa Claus abgebildet ist und die er aus der Altkleiderspende gewühlt hat. Kuki,die in Sichtweite wartet, verkneift sich ein Kichern. Wir denken an ihren singenden Mickymaus-Schlüpfer und meinen, sie hat allen Grund zum Verkneifen.
»Haben wir ein freies Zimmer?«
Daniel H. Boone sitzt unterdessen leicht benommen nebenan in der spärlichen Nachtbeleuchtung des Goldbrokatzimmers, einen dampfenden Yogi-Tee vor sich, von nicht enden wollenden gregorianischen Mönchsgesängen beschallt. Er versucht, sich daran zu erinnern, wie er hierher kam, was genau passierte, aber er ist zu müde, und sein Schädel brummt. Als er nach dem Henkel der Teetasse greifen will, findet er jedoch in seiner linken Hand eine zerknüllte, fettige Papptüte und einen pinkfarbenen Flyer. Langsam kehrt die Erinnerung zurück. Der Kuss im Park. Der Polizist und der Schminkkoffer. Der Muffin. Der Strafzettel. Das rote Kleid. Der Unfall. Die Fußglöckchen seiner rassigen Retterin. Ihre schwarzen plaudernden Lippen.
Toga gähnt, wobei sein zierlicher Mund die Gestalt eines Wachteleis formt, das weich im Nest aus Bart ruht. Er klappt den Mund wieder zu und klopft sich mit der flachen Hand auf die Brust. »Ist das Zimmer für einen zahlenden Gast, oder hast du etwa schon wieder einen Obdachlosen angeschleppt?«, fragt er. Kuki hat sich mittlerweile angewöhnt, Toga mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
»Es handelt sich in jedem Fall um ein Geschöpf Gottes«, sagt sie, lächelt charmant und legt dabei ihre perlmuttweißen Hamsterzähne frei.
»Ich komme«, haucht Toga gottergeben, aber wütend. Manchmal verwünscht er jenen Sommerabend im Central Park und dessen Folgen. Manchmal verwünscht er, Tempelpräsident geworden zu sein. Alles muss manselber machen! Toga hatte sich in der Planungsphase die Gemeinschaft der Glücklichen Sklaven Gottes immer anders vorgestellt. Wie in einem Hochglanzkatalog, nur die glänzendsten Vertreter aller Religionen, vorbildlich gekleidet, sich vorbildlich benehmend, sauber, duftend, in schönster Eintracht und strikter Entsagung unter Gottes Dach und seiner Fuchtel in der Tempelkirche zusammenlebend. Die Realität unterscheidet sich erheblich vom Traum. Es vergeht kein Monat, in dem er nicht die Polizei rufen muss, weil es über den Streit, welcher Gott der einzige sei, zu Handgreiflichkeiten kommt – Rufmord für die Idee der Glücklichen Sklaven. Toga seufzt. Gott hat
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