Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
einem Dienstmädchen zugeteilt gewesen war. Heute barg es einen begehbaren Schrank, der im steten Halbschatten lag, denn der dunkelrote Leinenvorhang, der vor dem schmalen Fenster hing, blieb zugezogen.
Philip Perak ließ das Frotteetuch fallen und begann, sich anzukleiden. Er knöpfte das weiße Hemd zu und entschied sich für eine leichte hellgraue Hose mit scharfen Falten.
Den Blazer würde er dazu tragen, den klassisch blauen mit den goldenen Knöpfen, in denen feinziseliert die Laokoon-Gruppe zu erkennen war. Perak war fasziniert von diesen Knöpfen, fasziniert von der Geschichte des trojanischen Priesters Laokoon und seiner Söhne, die von Schlangen umschlungen und schließlich von ihnen erwürgt wurden.
Im Grunde liebte er doch die Leidenschaft.
Er schob die Hände in die Taschen des Blazers, eigentlich, um eine gewisse Lässigkeit zu üben, doch er stieß auf ein kleines Papier, das ein Fahrzeugschein war.
Noch immer stand Ola Perak als Halterin eines Fahrzeuges darin, das die meiste Zeit in einer nahen Garage stand.
Eine große alte Daimlerlimousine, in der er sie gelegentlich herumkutschiert hatte. Viel zu schwerfällig für die Stadt.
Er hatte immer von einem kleinen Sportwagen geträumt, englisch vielleicht. Ein Aston Martin, mit dem er durch die Straßen flitzen und Ausschau halten könnte.
Er zog den Knoten der Krawatte fester und beschloss, ein Taxi zu bestellen. Oder lieber zur Brücke vor zu gehen und dort am Stand in eines zu steigen. Die Luft täte ihm gut.
Seit der vergangenen Nacht regnete es nicht mehr.
Erst vor dem großen Spiegel bemerkte er, dass er noch barfuß war. Er ging zurück, um Schuhe und Strümpfe zu holen, und entschied sich auf diesem kurzen Weg für den Anzeigentext. Welche Zeitungen würde die Saphirblaue lesen? Er selbst las gelegentlich die Neue Zürcher.
Alles andere interessierte ihn nicht.
Erst einmal würde er ins Vierjahreszeiten fahren. Zu einem kleinen Frühstück in der Kaminhalle. Und sich dann etwas Briefpapier geben lassen. Hoteleigenes. Ein kleiner Spleen. Doch er fand es diskreter so.
Er verschloss seine Tür sorgfältig und sah zu Veras hinüber. Seit jenem Abend hatte er sie nicht mehr gesehen. Der Schönling wollte sie doch hoffentlich nicht von hier weglocken.
Perak wandte sich dem Aufzug zu und hörte ihn von unten kommen. Konnte es sein, dass seine Nachbarin schon so früh unterwegs gewesen war? Er trat einen Schritt zurück, bereit die Aufzugtür zu halten. Hielt sie auch, obwohl er Anni Kock am liebsten darin eingeklemmt hätte.
Sie ging ohne Dankeswort an ihm vorbei, und er atmete tief ein, als sich die Aufzugtür hinter ihm schloss.
Er hasste diese Frau. Dabei hatte sie nicht einmal die geringste Ähnlichkeit mit seiner Mutter.
»Was sollte das mit der Zigarettenspitze?«, fragte Leo. »Ich hab doch noch nie geraucht.« Sie schob den Aschenbecher an die Tischkante und sah Vera nicht an. Leo war nervös.
Vera hatte eine Viertelstunde auf sie gewartet und schon an dem kleinen Tisch am Fenster gesessen und versucht, an dem Milchglas vorbeizugucken, das Gott sei Dank nur einen Teil der Scheibe trübte. Nicht auf das bewegte Leben da draußen blicken zu können, wäre nur der halbe Genuss.
Ihr gelang ein Blick auf Sultan's Kebab, vor dessen Laden eine Schar Teenager stand, um sich nach der Schule einen Döner zu gönnen und dann zu Hause keinen Hunger mehr zu haben. Vera grinste. Bei ihr waren es fettige Fritten mit Mayo gewesen. Ein gewagter Grenzgang von ihr zu Junk Food und Ungehorsam. Anni schätzte es auch heute noch nicht, wenn sie auf ihrem guten Essen sitzen blieb.
Vera grinste noch, als Leo endlich vor ihr stand.
Leo beugte sich zu Vera hin und küsste sie und klemmte sich an den Tisch, ohne auch nur die lächerlich kleine Lacktasche abzustellen, deren Griff sie in der Hand hielt. Leo schien in großer Eile zu sein. In Lunchpausen war das untypisch.
»Was sollte das mit der Zigarettenspitze?«
»Ich war gereizt«, sagte Vera, »du weckst mich um zwei Uhr morgens, dröhnst mir den Krach dieses Happenings in die Ohren und belehrst mich, was Kultur ist.«
»Du bist einfach festgefahren in deinen Gewohnheiten und Ansichten. Ab und zu muss man ein Grenzgänger sein.«
Fettige Fritten mit Mayo fielen Vera ein.
»Harlan zeigt mir Dinge, die mein Denken erweitern.«
»Mir scheint es eher eine Gehirnwäsche zu sein.«
»Du sprichst schon wie Nick.«
Vera sah ihre beste Freundin aufmerksam an. »Warum bist du so giftig?«, fragte
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