Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
sie, »wovor hast du Angst?«
Leo drehte sich nach dem Kellner um. »Ich hab nicht viel Zeit«, sagte sie, »lässt sich das hier beschleunigen?«
»Als wir uns das letzte Mal sahen, hast du in meinem Bananenblattsessel gesessen, einen Gin Tonic in der Hand, und warst in Tränen aufgelöst, weil dir Nick Leid tat.«
»Ich nehme einen Gin Tonic und einen kleinen Salat«, sagte Leo, kaum dass der Kellner nahte.
»Den Tafelspitz und ein großes Wasser«, sagte Vera.
»Wasser? Das ist ja ganz neu.«
»Einer muss hier ja bei Verstand bleiben.«
»Nick tut mir immer noch Leid.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
Leo schüttelte den Kopf. Sie griff nach der Lacktasche und holte ein Taschentuch hervor.
»Heul nicht immer gleich los, wenn wir von Nick sprechen. Geh lieber fair mit ihm um. Sprich endlich mit ihm.«
»Und wie sag ich ihm fair, dass ich einen aufregenderen Mann getroffen habe?«
»Ist es also doch schon entschieden?«
Leo hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie, »Harlan weckt etwas in mir, das ich bisher noch nicht kannte.«
»Hört sich an wie der Titel einer schlechten Geschichte.«
Leo trank den Gin Tonic halb leer und stellte das Glas heftig auf den Tisch. »Genau das ist es«, sagte sie. »Ihr haltet mich klein, du und Nick. Lächelt über das, was ich tue, obwohl du den Job auch schon gemacht hast. Nick gibt ohnehin nur noch den Heiligen, und du hast gut spotten. Mir hat Papi keinen Sack Geld unter den Hintern geschoben.«
Vera guckte in ihr Glas und bedauerte nun, dass nur Selters drin war. »Ich dachte, dass du den Job mit genau so viel Spott betrachtest, wie ich es getan habe«, sagte sie.
»Harlan interpretiert ihn ganz anders.«
»Deinen Job?«
»Er sieht ihn als Gesamtkunstwerk.«
Vera nickte. Der Tafelspitz kam, und sie sah ihn freudlos an.
»Weiß ich schon, warum du mich im Vierjahreszeiten versetzt hast?«, fragte sie.
»Hab ich dir das nicht längst gesagt?«
»Vielleicht ist es im Lärm von einfahrenden Zügen und Luftschutzsirenen untergegangen.«
Leo stocherte in den Löwenzahnblättern und stach die Gabel schließlich in ein Stück Tomate. »Ich musste Hals über Kopf nach Berlin«, sagte sie.
»Hals über Kopf. War was mit Udo Walz?«
Leo verzog das Gesicht.
»Entschuldige. Mit deinem Harlan hatte es nicht zu tun?«
»Nein«, sagte Leo. Sie hätte gern noch einen Gin Tonic getrunken und schickte sich an, nach dem Kellner zu sehen, doch dann sah sie nur auf ihre Uhr.
»Harlan ist sein Vorname?«
»Seine Mutter verehrte Veit Harlan.«
»Gott«, sagte Vera, »der hat Jud Süß gedreht.«
»Ich sagte ja, du sprichst schon wie Nick.«
»Vielleicht sind wir zu kritisch und du zu leichtfertig.«
Leo stand auf und ließ ihren Salat eher ungegessen. »Ich muss gehen«, sagte sie und griff nach ihrer Lacktasche.
»Sicher was Dringendes.«
Leo holte einen Geldschein hervor, der lose in der Tasche gelegen haben musste. »Sicher«, sagte sie.
»Lass nur«, sagte Vera, »ich lade dich ein.«
Leo nickte. »Tut mir Leid«, sagte sie, »es wird bestimmt wieder anders. Doch im Augenblick bin ich so absorbiert.«
»Bist du sicher, dass dein Bekannter nicht Graf Dracula ist?«
»Der wohnt doch neben dir«, sagte Leo.
Sie lächelte und ging davon und drehte sich nicht mehr um.
Vera sah ihr durch den Spalt Klarglas nach. Wie sie durch die Lange Reihe ging. Sich nach einem Taxi umsah.
Absorbiert war ein mildes Wort. Leergesaugt wirkte Leo.
Vera fing an, sich große Sorgen zu machen.
Da war ihm doch einer der Laokoonknöpfe abgesprungen. Hatte er ganz in Gedanken daran gedreht?
Philip Perak strich über die knopflose Stelle am Blazer, dort, wo sich noch ein kleines Stück Faden befand. Er suchte im dicken Teppich zu seinen Füßen und hob die Damastdecke des Tisches, an dem er saß. Er fand ihn nicht.
Einen Augenblick lang dachte er daran, den Kellner herbeizuwinken und ihn herumkriechen zu lassen. Doch dann war ihm das Aufsehen unangenehm, das es erregen würde.
Er fühlte sich beschädigt. Die Vollkommenheit seines Auftritts hatte Schaden genommen. Perak hielt die flache Hand über das Fadenende und sah aus, als leiste er einen Schwur.
Dabei hatte er eben noch die Genugtuung gehabt, einen erstklassigen Text geschrieben zu haben.
Er betrachtete den Bogen Papier, der neben dem Teller mit dem zerkrümelten Hörnchen lag, und las die Zeilen, die er mit schwarzer Tinte geschrieben hatte. Sprangen die ins Auge?
Perak sah die Saphirblaue vor sich, wie sie
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