Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
konnte.
Wollte Vera Normalität? Einen alten Vater zu haben und eine vierzig Jahre jüngere Mutter, die sich an jeder Ecke die Kerle suchte, war sicher keine. Konnte Vera also gar nicht wissen, wie es ist, normal zu leben? Hatte die kleine Anni denn eine normale Kindheit gehabt? Als Neunjährige mit der Mutter in einem Barmbeker Keller sitzen und den Bomben zuhören. Gut, wenn man sie hörte. Dann trafen sie einen nicht.
»War eben Krieg«, sagte Anni laut in die leeren acht Zimmer hinein, »kann man nicht vergleichen.«
Dann der Vater tot, vier Tage vor Annis zehntem Geburtstag, in Kurland gefallen. Wusste doch heute keiner mehr, wo das lag. Alles Lettland jetzt. Vera war ja kaum zwanzig gewesen, als sie Halbwaise wurde. Anni seufzte. Gustav Lichte war der einzige Mann, den sie gelten ließ.
Dieser Jef. Ein hübscher Junge und lieb. Aber da war auch was Verschlossenes an ihm. Er hatte eben auch nicht viel Normalität gehabt. Was sie so von Vera hörte.
Wenigstens hatte das Geklapper an der Wohnungstür aufgehört. Wusste sie längst, dass dieser Perak immer mal durch den Schlitz guckte.
Was dachte er? Dass Vera nackt hinter der Klappe saß?
Anni kicherte. Vielleicht sollte sie sich mal dahinsetzen.
Wo Vera bloß blieb? Sie hatte Jef doch nur in ein Taxi setzen wollen. Anni stand auf und ächzte. Diese Nässe in den letzten Tagen tat ihren Knochen nicht gut. Kaum zu glauben, dass das Mai sein sollte. Das hatte man nun von den paar Tagen Hochsommer im April. War alles nicht normal.
Sie ging zu der kleinen Kommode, die im Flur stand, und zog die oberste Schublade auf. Dort lag der Zettel, auf den Vera die Telefonnummer von Jef für sie aufgeschrieben hatte. Sollte sie ihn anrufen? Fragen, ob Vera da war?
Sie nahm den Telefonhörer ab und legte ihn wieder auf.
Was waren denn das für Klänge da drüben? Der hatte ja keine Ahnung von Musik. Wenn sie an die Melodien dachte, die Veras Vater komponiert hatte. War immer Herz dabei gewesen, und dann hatte er vorne am Klavier gesessen und die eigenen Lieder gespielt und die der anderen. Aber eben immer Herz. Das war schön, dachte Anni Kock.
Die Normalität, nach der sie sich sehnte, war vielleicht nichts anderes als das Füllen der Stille. Kinderlärm. Klavierspiel. Und ein paar Leute mehr um den Küchentisch.
Anni Kock hörte den Schlüssel im Schloss. Endlich.
»Tut mir Leid«, sagte Vera, »ich war noch bei Nick und dann einkaufen.« Sie warf ihre Tasche auf das Säufersofa.
Konnten wohl nur unzerbrechliche Kleinigkeiten sein, die Vera eingekauft hatte. Anni schüttelte den Kopf.
Endlich mal für eine große Familie sorgen, dachte sie.
Vera hatte vergessen, die Nachttischlampe auszuschalten, das Notlicht, das beinah immer brannte. Das erleichterte es ihr, das Telefon gleich zu finden, obwohl sie aus einem tiefen Schlaf kam. Viertel vor zwei zeigte der Wecker von Cartier an, den ihr Vater ihr geschenkt hatte. Vera zum achtzehnten Geburtstag von ihrem Gustav.
Sie grummelte ein Hallo in das Telefon und hörte einen Haufen Nebengeräusche, die alle nach Bahnhof klangen.
Sie wollte gerade auflegen, als sie Leos Stimme erkannte.
»Verzeihst du mir?«
Vera war nun völlig wach. »Das Vierjahreszeiten oder die nächtliche Ruhestörung?«, fragte sie.
»Ist es schon so spät?«
»Gott, Leo. Da hängen doch sicher Uhren auf dem Bahnhof.«
»Ich bin nicht auf dem Bahnhof.«
»Eine neue Band?«, fragte Vera. Im Hintergrund glaubte sie, einen Zug einlaufen zu hören. Fuhren um diese Zeit denn noch Züge ein? Dann ein Kreischen, das kaum von einer Bremse kam, sondern aus der Kehle einer Frau.
»Leo? Wo bist du?« Vera fing an, unruhig zu werden.
»In einer alten Fabrik. Es ist ein Happening, das du hörst.«
»Ich dachte, das gäbe es nicht mehr«, sagte Vera.
»Harlan ist Spezialist für diese Happenings.«
»Harlan?«
»Gott, Vera. Ich hab dir doch von ihm erzählt.«
Harlan. Keine angenehme Assoziation, die sie da hatte. Hieß der so mit Vornamen?
»Ich dachte, er sei kultiviert«, sagte sie.
Das Geräusch, das sie nun hörte, war ein Zischen von Leo.
»Kultur ist nicht nur in der Kunsthalle stehen und Caspar David Friedrich angucken«, sagte sie.
»Nimm mal deine Zigarettenspitze von der Zunge«, sagte Vera, »du zischst sonst zu sehr beim Sprechen.« Das hatte ihr gefehlt, sich kurz vor zwei mit Leo zu streiten, während die auf einem Happening weilte. Was wollte sie eigentlich?
»Ich wollte mich nur melden«, sagte Leo.
»Gut. Nick und ich
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