Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
doch das unterschied sie kaum von den fünf anderen Toten, die vor ihr gefunden worden waren. Die kleine Ophelia war so wenig missbraucht worden wie ihre Vorgängerinnen.
Auf den Fingerkuppen ihrer linken Hand war eine Spur von Lippenstift, nicht auf ihrem Mund und nirgends sonst.
Das Gras wurde durchkämmt, die Erde gehoben.
Die Leute von der Spurensicherung hatten in Tagen und Nächten nicht nachgegeben zu suchen. Eine angerauchte Zigarette fanden sie, bei der sich jemand die Mühe gemacht hatte, sie in den Boden zu graben. Der Speichel, der daran festzustellen war, blieb unbekannt.
Malvenfarben war der Lippenstift an der Hand der Toten. Später würden sie herausfinden, dass er unter dem Label Mauve Diabolique vertrieben wurde, und einige Männer aus der SoKo würden die Köpfe schütteln über die leichtfertigen Einfälle der Kosmetikindustrie.
Doch alle waren sich einig, dass es eine abwehrende Geste gewesen sein musste, die den Lippenstift an Ophelias Hand zurückgelassen hatte, und es wichen die Zweifel, dass der Täter eine Frau gewesen sein könnte.
»Ich beschwöre dich, keiner Seele etwas davon zu erzählen«, sagte Nick und sah Vera eindringlich an. Er staunte noch darüber, eingeweiht worden zu sein.
Ohnehin ein Glücksfall, dass Pit gestern Nachmittag gleich Zeit gehabt und sich an Nicks Küchentisch gesetzt hatte.
Nick hatte eine Flasche Tochuelo auf den Tisch gestellt, ein weißer kräftiger Wein aus der Gegend von Madrid, und Tapas, die für den Lunch mit Vera vorgesehen gewesen waren. Nick wollte seinen Informanten milde stimmen.
Pit war nicht nur milde, sondern schon mürbe.
Nichts lief. Noch wurde die SoKo nur intern kritisiert. Doch es war eine Frage der Zeit, bis die Öffentlichkeit aufbegehrte. Sechs Frauen waren getötet worden. Was hatte einer von den Psychologen, die für das Täterprofil zuständig waren, gesagt? Dass man einen Wahnsinnigen leichter fange als einen Profikiller? Wie viel Wahnsinn musste ihr Täter noch an den Tag legen, um endlich gefasst zu werden?
Pit war in der Stimmung gewesen, dem Tochuelo gründlich zuzusprechen. Nick hatte ihn nicht daran gehindert und nur kleine Gewissensbisse gehabt.
»Ist noch was von dem Wein da?«, fragte Vera. »Ich gebe die Informationen auch leichter raus, wenn ich getrunken habe.«
»Harlan«, sagte Nick, »erzähle.«
Vera tat Harlan mit einer Handbewegung beiseite. »Sind sie mit den Tätowierungen weitergekommen?«, fragte sie.
Nick schüttelte den Kopf. »DIEMONDF«, sagte er, »ich halte nach wie vor Mondfinsternis für möglich.«
Er öffnete die letzte Flasche, die von dem Spanier übrig geblieben war, und füllte die Gläser. »Tapas gibt es leider keine mehr«, sagte er, »aber ich kann dir Eierspeisen à la carte anbieten.«
»Spiegeleier werden unsere Spezialität.«
»Ich dachte an ein Omelette natur.«
»Fein«, sagte Vera, »was weißt du von Mondfinsternissen?«
»Der Mond verfinstert sich durch den Schatten der Erde. Am gleichen Ort passiert das etwa alle achtzehn Jahre.«
»Wann war die letzte?«
»Keine Ahnung«, sagte Nick. Er holte den Sechserkarton Eier aus dem Kühlschrank. »Nehmen wir an, es war tatsächlich eine Frau, was tätowiert sie ihren Opfern in den Hals?«
»Wären die Opfer Männer, dann fiele mir was ein.«
Nick war dabei, die Eier aufzuschlagen. »So?«, fragte er.
»Nieder mit der männlichen Vorherrschaft.«
»Das geht völlig am Zeitgeist vorbei«, sagte Nick und griff zur Gabel. »Willst du Schnittlauch darin haben?«
»Alles, was du willst«, sagte Vera.
»Ist Harlan ein Vertreter männlicher Vorherrschaft?«
»Da ist eine gewisse Dominanz. Obwohl sie ihm nicht auf den ersten Blick anzusehen ist.«
»Keine Kinnlade wie ein Schlächter?«
»Er ist ein hübscher Mann, nur eher düster.«
Nick blickte sie strafend an, als er mit der Schere auf den Balkon schritt, um Schnittlauch zu schneiden, der da einsam in einem Kasten zwischen trockener Erika wuchs.
»Harlan hat etwas Faszinierendes«, sagte sie vorsichtig. Nick wandte ihr den Rücken zu und schnitt länger als nötig.
»Eine Faszination, wie Sektenführer sie haben«, fuhr Vera fort, »ich glaube nicht, dass er Leo gut tut, und ich glaube auch nicht, dass es lange gut geht.«
Nick kam in die Küche zurück.
»Jef kann ihn nicht ausstehen.« Es war ein Bonbon, das sie für Nick aufbewahrt hatte.
»Wann lerne ich Jef kennen?«, fragte Nick. Er stellte die Lyoner Pfanne in beinah aufgeräumter Stimmung auf den
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