Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
Kessel heulte.
»Neben Anni ist jemand eingezogen«, sagte Vera, »er spielt Oboe. Vorzugsweise abends.«
»In der Wohnung der toten Strumpfverkäuferin?«
»Genau da.« Vera goss den Kaffee in die Tassen.
Nick trank und grinste. »Vollendeter Genuss«, sagte er.
»Warum kommst du darauf zurück, dass es eine Frau sein könnte? Weißt du was, das ich nicht weiß?«
Nick schüttelte den Kopf. »Nur so ein Gefühl«, sagte er.
»Gott«, sagte Vera, »du nicht auch noch. Anni und ihre Ahnungen gehen mir genügend auf die Nerven.«
»Sie hat Angst um dich.«
»Gibt keinen Grund dazu. Ich bin gesund und kräftig, kriege vierteljährlich einen Haufen Geld von der Gema und habe obendrein noch den Mann meines Lebens getroffen.«
»Ja«, sagte Nick. Er klang traurig. »Darf ich Blumen streuen?«
»Ich werde dir den Brautstrauß zuwerfen.«
»Gibt es etwas Neues von Leo?«
»Sie kommt heute Abend in die Bongo-Bar, um ihre beste Freundin singen zu hören.«
»Und den Bräutigam der besten Freundin zu begutachten.«
»Vor allem werde ich Harlan begutachten.«
»Der kommt mit?«
»Darauf habe ich gedrungen.«
»Kommst du morgen Mittag auf einen kleinen Lunch zu mir?«
»Klar«, sagte Vera, »ich werde dir berichten.«
»Dieses Detail«, sagte Nick und rührte in seinem Kaffee, in dem es gar nichts zu rühren gab. Er trank ihn schwarz.
»Wo haben sie die Schauspielschülerin gefunden?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Nick. Es erstaunte ihn, dass er es nicht wusste. Das Essen der Pizza im Martini Cinque war nicht sehr ergiebig gewesen. Pit und er hatten nichts anderes als Mineralwasser getrunken.
»Vielleicht ist da das Detail zu finden.«
»Ich werde Pit fragen.«
»Morgen Mittag wollen wir das wissen. Ich bin um zwei bei dir.«
»Warum erst um zwei?«
»Weil ich eine lange Nacht vor mir habe.« Vera hoffte, dass ihr dabei die Herren vom Kiez erspart blieben. Harlan genügte.
»Wo bleibt Anni denn bloß?«
Vera stand auf und holte die gusseiserne Pfanne hervor.
»Spiegeleier?«, fragte sie. »Ich nehme an, du hast Hunger.«
Der Himmel färbte sich rot hinter dem Hafen. Harlan stand am Fenster und schaute der Barkasse zu, die im Zollkanal anlegte. Zwei tiefe Züge tat er, dann hatte er die Zigarette zu Ende geraucht. Es gab Menschen, die rauchten nur in Gesellschaft. Er rauchte, wenn er allein war.
Gleich halb zehn. Zeit, Leo abzuholen, um mit ihr in diesen Laden zu gehen. Wahrscheinlich stand sie schon vor der Tür der Fünfzigerjahre Fliese, in der sie lebte. Sie fing an, so eifrig zu sein. Lang würde er es nicht mehr aushalten.
Doch heute Abend galt es, die Sängerin kennen zu lernen.
Er staunte noch immer, dass Leo es vorgeschlagen hatte.
Die beste Freundin, aber er spürte da Eifersucht.
Harlan nahm den blauen Glasteller mit den beiden Kippen und trug ihn zu der Spüle, die neben Kühlschrank und Herd und einem Meter Granitplatte die Küche darstellte.
Er ließ Wasser über den Teller laufen und ertränkte die Kippen. Den Geruch der abgerauchten Zigaretten ertrug er nicht. Doch sie so nass zu sehen, ekelte ihn.
Er sollte sich die elende Raucherei abgewöhnen.
Um viertel vor zehn verließ er das Haus und ging zu der Rover Limousine, die unter den Hochbahngleisen stand.
Er legte eine Kassette in den Recorder. Marianne Faithfull stimmte ein brüchiges Lied an. Harlan startete den Rover.
Boulevard of Broken Dreams. Er liebte die Faithfull. Fand sie hochgradig ästhetisch in ihrer Kaputtheit.
Leo sah großartig aus. Das schwarze Schlauchkleid, das ihr am Körper klebte. Der hohe Kragen, der Ärmelausschnitt, der ihre Schultern komplett entblößte. Harlan war angetan.
Er küsste Leos Hand, bevor er ihr die Autotür öffnete. Vielleicht war doch nicht so viel Abwechslung nötig in den nächsten Tagen. Leo hatte noch eine Chance verdient.
Er fuhr zum Hafen zurück und am Bismarck vorbei und bog in die Reeperbahn ein. Keine Gegend, die er schätzte. Doch die Bongo-Bar, die abseits dieses grässlichen Trampelpfades lag, bekam allmählich einen guten Ruf, auch unter Ästheten. Kein wirklicher Jazz, aber die American Standards, die dort gespielt wurden, fanden auf hohem Niveau statt.
Als Harlan in der Nähe der Bar hielt, setzte ein jäher heftiger Regen ein. Erst als er die Tropfen auf dem Autodach hörte, fiel ihm auf, dass Leo und er kein Wort gesprochen hatten.
Er stellte den Motor ab und schob eine Hand hinüber. Das kurze Kleid war ihr hochgerutscht. Leo saß mit nackten Schenkeln,
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