Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
Tablette.
Natürlich kam ihm der Gedanke. Es hätte vieles erklärt.
Die Gedächtnislücken. Vielleicht auch das Gesumme in seinem Körper. Kannte er sich denn aus mit Drogen?
Sicher gab es da welche, die einen Mann wie ihn dazu brachten, seine Hosen auszuziehen.
Doch Philip Perak schob den Gedanken zur Seite.
Er nahm einen der cognacbraunen Budapester, die ebenfalls unter dem Flügel lagen, statt an seinen Füßen zu sein. Obwohl es wirklich lächerlich ausgesehen hätte, ganz ohne Hosen. Perak schüttelte den Kopf und gleich überkam ihn Schwindel. Er wartete einen Augenblick, bis er sich wieder bücken konnte, doch dann sammelte er jede einzelne Scherbe ein und legte sie in den Schuh.
In der Küche kippte er ihn über dem Abfallsack aus.
Er wollte nichts wissen.
Die Saphirblaue sollte unantastbar sein.
Unerträglich der Gedanke, dass er diesen prächtigen Vogel verscheuchte. Durch kleinliches Misstrauen.
War ihm je eine Frau näher gekommen?
Philip Perak guckte an seinen nackten Beinen hinunter.
Ganz offensichtlich nein.
Jef las es in der Zeitung. Auf der zweiten Seite des Lokalteils war das Foto eines jovial lächelnden älteren Herrn zu sehen. Daneben eine weniger deutlich erkennbare Leiche, die auf nacktem Betonboden lag. Blut an der Kehle.
Love me tender. Jef hatte ihn vor Augen, wie er am Steinway hing, zu volltrunken, um vorsichtig zu sein mit den Worten.
Die Nacht im Büro hinter der Bar. Jorge, der Schläger, in seiner knappen Lederjacke.
Der Abend, an dem Vera sang und vier Herren hereinkamen, von denen sich die beiden älteren dicht hinter ihn setzten.
Nein. Jef hatte nicht vergessen. Auch nicht die Angst.
Er wusste jetzt, wie umgegangen wurde mit denen, die in Gefahr waren, zum Verräter zu werden. Vielleicht nicht einmal absichtlich zum Verräter wurden. Dumme Kerle, wie er einer war, die sich gar nicht vorstellen konnten, dass der Tod darauf stand, Geschäfte wie diese auszuplaudern.
Kein dummer Kerl, dieser Holländer Michel. Er war einer, der dazu gehörte, das Geschäft seit langem kannte, gut daran verdiente. Auch in der Zeitung standen nur Mutmaßungen, warum er hingerichtet worden war.
Jef legte die Zeitung zusammen und tat sie vorzeitig auf den Stapel Altpapier. Einmal hatte Vera ihn gebeten, in der Bongo-Bar aufzuhören. Er sollte es einfach riskieren. Sie würden ihm deshalb nicht die Kehle durchschneiden. Oder?
Er konnte in den Foyers der Hotels spielen, auf Hochzeiten. Was sollten die künstlerischen Ansprüche, wenn man derart unter Druck stand. Dann lieber Wunschkonzert.
Jef wollte sein Leben ändern. Um Veras Willen.
Er kam ins Träumen und stellte sich vor, dass es ihm doch noch gelänge, ein angesehener Pianist zu werden. Außerhalb von Bars. Als Klavierbegleiter. Auf der Bühne. In Studios. Vielleicht sogar eine eigene kleine Produktion.
Vera hatte Besseres verdient als einen Prinzgemahl.
Jef ging in die Küche und goss sich einen Tomatensaft ein, gab dann doch noch einen Schuss Wodka dazu und Chili.
Ein Getränk, das er sich zu früher Stunde abgewöhnt hatte, doch er brauchte jetzt Leichtigkeit in den Gedanken.
Einfach die Fühler ausstrecken. Dann Vera zu Rate ziehen. Die Bongo-Bar war schließlich auch ihr Podium.
Love me tender, love me sweet, never let me go.
Dass jetzt dieses Lied in seinem Kopf sein musste.
You have made my life complete, and I love you so.
Alkohol am Vormittag stärkte die Nerven längst nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Er ging zu dem Altpapierstapel und griff nach der Zeitung. Schlug die zweite Seite des Lokalteils auf und guckte die Fotografie des jovial lächelnden älteren Herrn an. Kiezgröße. Käsehändler. Vielfältiges Leben.
Fast tat er ihm Leid, der ältere Herr.
Er hatte die feste Absicht, nicht so zu enden.
Jef nahm einen tiefen Schluck und war zuversichtlich.
Love me tender. Er pfiff es, als er das Haus verließ.
Kohlrouladen im Juli. Diese altdeutsche Kocherei musste sie sich doch mal aus dem Kopf schlagen. Mitten im schönsten Sommer. Anni Kock wedelte die Flügel der Fenster hin und her, als seien sie ein großer Fächer. Kohlgeruch in acht Zimmern. Das sollte ihr mal einer nachmachen.
Vera würde staunen, wenn sie sah, was es zu essen gab. Bei dreißig Grad im Schatten. Nur weil Anni mal wieder ganz sentimental geworden war, als sie die Lieblingsgerichte von Gustav Lichte nachgelesen hatte. War doch die schönste Zeit, als Vera Kind war und der alte Herr noch lebte. Wenn nur Nelly nicht so gestört
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