Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
hätte.
Anni ließ die Fenster offen stehen und ging zu dem kleinen Tisch in der Diele, auf dem die Post lag, die sie mit nach oben gebracht hatte. Ein Brief von Nelly Lichte war dabei. Meistens wollte sie ja was, wenn sie schrieb. Ein Glück nur, dass sie schon damals bei der Trennung von Gustav gut abgefunden worden war und nicht an Veras Geld konnte.
Anni nahm den Brief und schnüffelte daran. Hätte doch nach Lavendel duften müssen, wo er aus Nizza kam. Stattdessen roch er nach einem Parfüm, das eine gepflegte Wohnung im Nu in einen Puff verwandelte. Unauffällig war Nelly ja noch nie gewesen. Dann lieber der Geruch nach Kohlrouladen.
Neben Nellys Brief lagen noch zwei Kuverts, die ganz nach vornehmen Einladungen aussahen. Vera ging ja kaum noch irgendwo hin, seit sie Jef kannte und in der Bar sang.
Nachher würde sie sich wundern, dass keiner mehr Vera Lichte zu seinem Ringelpietz einlud.
Vera war doch immer gern dabei gewesen, und das Schönste waren ihre Schilderungen der gesellschaftlichen Ereignisse. Anni seufzte. Oh, wie hatte sie das geliebt, vormittags mit Vera in der Küche sitzen und alles erzählt zu bekommen.
Mit Spott hatte Vera ja selten gespart.
Nun war es schon gleich eins. Konnte doch allmählich mal aufkreuzen, das Kind. Dass sie auch immer bei Jef schlief, wo die beiden es doch hier so nett hatten. Was hatte Vera als Grund genannt? Zu Jef könne man bequem zu Fuß gehen von der Bar. Zu Fuß. Das alles in der Nacht und noch dazu in dieser zweifelhaften Gegend.
Musste sie sich doch mal angucken, das Ganze. Vera hatte sie ja schon oft aufgefordert. Dann machst du dich fein und lässt dich im Taxi hinchauffieren, hatte Vera gesagt. Vielleicht sollte sie das bald tun, wo die Dauerwelle noch frisch war.
Anni legte den Brief zurück auf den kleinen Tisch, der unter dem antiken Spiegel stand. Was Nelly wohl wollte?
Eine kleine Eifersucht stieg in Anni Kock auf. Im Grunde war es doch ein Glück, dass Nelly eine miserable Mutter abgab.
So hatte sie Vera meistens für sich alleine gehabt.
Vera, Anni und Gustav. Anni gab kaum je vor sich selber zu, dass sie Veras Vater nicht nur verehrt, sondern auch geliebt hatte. Heimlich, still und leise. Außer ein paar Neckereien war nie etwas gewesen zwischen ihr und Gustav.
Anni schreckte zusammen, als es klingelte. Sie öffnete die Tür, vor der keiner stand, und drückte dann auf den Knopf der Sprechanlage. Wer war das nun wieder?
»Annilein, ich habe den Schlüssel vergessen«, sagte Vera.
Na endlich. Dann konnte sie ja die Kartoffeln aufsetzen.
Anni ließ die Tür einen Spalt offen und war schon auf dem Weg in die Küche, als sie umkehrte. Konnte man doch nie wissen, ob der Verrückte da drüben aus seiner Wohnung kam und hier eindringen wollte.
Vera kam keuchend die Treppe hoch. Hielt einen auch nicht gerade fit, die Nächte in einer Bar zu verbringen.
»Gott. Ist das heiß«, sagte Vera.
»Ist der Aufzug kaputt?« .
»Steht im ersten Stock. Da lädt einer Dutzende Kartons Wein aus. Wir sollten auch mal wieder was bestellen.«
Vera wischte sich über die schweißnasse Stirn.
»Es gibt Kohlrouladen.« Am besten das gleich loswerden.
»Warum denn das? Es ist Hochsommer.«
»Hab in den Rezepten mit den Lieblingsgerichten deines Vaters gelesen«, sagte Anni entschuldigend.
»Mochte er keine kalte Gurkensuppe?«, fragte Vera.
Kohlrouladen hatten ihr gerade noch gefehlt. Sie hatte ohnehin heute das Gefühl, wenigstens zwei Kilo zu viel auf den Hüften zu haben. Der enge Leinenrock spannte.
»Da liegt ein Brief von Nelly auf dem Tischchen.«
Vera nickte ergeben. Das liebe Mütterlein hatte meistens ein Anliegen. Kontakte knüpfen, damit die Ferienhäuser von Nellys Freundinnen vermietet wurden. Tabletten besorgen, die es angeblich in ganz Frankreich nicht gab. Und natürlich Erkundigungen über Schönheitschirurgen einziehen.
Vera nahm den Brief. Woher bezog Nelly nur diese Parfüms? Sie riss den Umschlag auf.
Nelly et Edouard sont émus de vous annoncer leur mariage le 20 juin à Saint Paul de Vence.
»Ich bin platt«, sagte Vera.
Kein anderer Text. Nur Nellys Adresse in Nizza.
Vera drehte die Karte um. Doch Nelly hatte sich nicht die Zeit genommen, einen Gruß an ihr einziges Kind zu schreiben. Vermutlich hatte sie hunderte Karten zu verschicken gehabt.
»Eine Vermählungsanzeige«, sagte Vera, als sie in die Küche kam. »Nelly und Edouard haben am 20. Juni geheiratet.«
Anni ließ fast die Kasserolle mit den Kohlrouladen
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