Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
fallen.
»Wer wohl Edouard ist?«, fragte Vera.
»Sicher ein steinreicher Kerl«, sagte Anni, »sonst hätte Nelly ihn nicht genommen.«
»Einer ihrer jugendlichen Liebhaber vielleicht?«
Anni schüttelte den Kopf. »Setz dich und iss«, sagte sie, »du brauchst jetzt was Kräftiges für den Magen.«
»Junge Leute können durchaus wohlhabend sein.«
»Dann tun sie sich aber nicht mit einer Schrulle zusammen, die auch nur zwei Jahre jünger ist als ich.«
»Allein die Schönheitsoperationen, von denen ich weiß, müssten Nelly nagelneu gemacht haben.«
Anni stellte einen vollen Teller vor Vera hin.
»Sei nicht böse, Annilein. Ich kann das nicht alles essen.«
»Ist es dir doch auf den Magen geschlagen.«
»Nein. Aber ich schwitze schon genug.«
»Nimmt dich eben mit, die Nachricht.«
»Anni, hör auf«, sagte Vera. Sie teilte eine Kohlroulade mit der Gabel und nahm zwei halbe Kartoffeln dazu. Den größeren Teil dessen, was auf ihrem Teller lag, trennte sie davon, indem sie eine Grenze durch die Sauce zog. So hatte sie es schon als Kind gemacht, wenn Annis Portionen zu groß gewesen waren. Sie nahm eine Gabel voll Hackfleisch.
»Es ist mir völlig egal, wen Nelly ehelicht«, sagte sie kauend, »soll sie glücklich werden mit Edouard. Komisch, dass gar kein Nachname dabei steht.«
»Dann kann es kein Graf sein. Das hätte sie sich nicht nehmen lassen, uns einen Titel auf die Nase zu binden.«
»Vermutlich heißt er Dupont«, sagte Vera, »was hältst du davon, wenn wir ihr auch eine Anzeige schicken?«
Anni konnte nicht gleich antworten. Sie kaute an einem zu großen Stück Kohlroulade.
»Was denn für eine Anzeige?«, fragte sie schließlich.
»Jef und ich werden heiraten. Wir sind alt genug.«
Anni fing an zu husten. Sie hatte doch zu hastig gekaut.
»Ist das ein Schreck für dich?«
»Nein«, sagte Anni, »ich hab den Jungen gern.«
Sie schob ihren Teller zurück. Groß war ihr Appetit nicht mehr. »Aber ihr wohnt doch hier?«, fragte sie.
»Natürlich«, sagte Vera.
»Und was ist mit mir?«, fragte Anni.
Vera stand auf und legte die Arme um Annis Schulter.
»Annilein«, sagte sie, »ich kann mir ein Leben ohne dich gar nicht vorstellen.« Sie gab ihr einen Kuss auf die Wange, die nicht von einem Schönheitschirurgen geglättet worden war.
»Du bist mir die Liebste. Ohne dich geht nichts.«
Dann setzte Vera sich und aß noch eine Kohlroulade. Sie verstand es als einen Teil ihrer Liebeserklärung.
Schon der vierte Tag, der verging, seit die Saphirblaue aus dem Haus gegangen war. Er musste tatsächlich von Sinnen gewesen sein, sich nicht die Adresse geben zu lassen.
Nur den Vornamen kannte er. Gloria. Konnte es einen passenderen geben für diese prächtige Frau?
Das durfte doch nicht sein, dass sie aus seinem Leben gegangen war nach dieser kurzen Nacht des Glücks.
Perak hatte sich zu dieser Interpretation entschlossen.
Die kurze Nacht des Glücks.
Natürlich war ihm nicht verborgen geblieben, dass die Krawattennadel mit den grauen Perlen fehlte, die auf der Kommode in der Diele gelegen hatte.
Ich liebe das Besondere. Waren das nicht ihre Worte gewesen? Ein kleines Erinnerungsstück. Es sollte sein.
Wenn Gloria nur wieder zu ihm fände.
Sonst musste er sie finden. Perak dachte daran, die alte Daimlerlimousine aus der Garage zu holen und zu dem Parkplatz am Hafen zu fahren. Falls er den Aston Martin dort stehen sah, könnte er stundenlang in seinem Auto sitzen, ohne auffällig zu sein. Bis sie käme.
Er stand an dem großen Fenster seines Salons und sah in den noch hellen Sommerabend hinein.
Sollte er das heute Abend bereits tun?
Perak seufzte. Ihm war danach, es aufzuschieben. Er wollte die Hoffnung noch nicht aufgeben, dass sie es sein würde, die den nächsten Kontakt aufnahm.
Er hatte Sehnsucht nach ihrer Sehnsucht.
Was seine Nachbarin wohl tat an einem solchen Abend?
Er öffnete die Balkontür, um nach Stimmen zu lauschen, doch es blieb still. Vielleicht saß sie in irgendeinem Garten. Lag in einem Garten. In den Armen dieses Mannes, der ihn so fatal an Vic erinnerte.
Ein Spaziergang. Vielleicht könnte er einen Spaziergang machen. Zur Garage. Nach der alten Limousine sehen.
Wer hätte das gedacht, dass ihr noch eine Rolle zukam.
Perak öffnete die Schublade des Schreibtisches, um die Schlüssel herauszunehmen. Die Initialen von Ola Perak hingen in schwerem Gold daran.
Er war unschlüssig, ob er ein Jackett anziehen sollte an diesem warmen Abend. Perak betrachtete
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