Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
observieren. Er wollte endlich mal Harlan zu Gesicht bekommen.
Oder Leo beschützen. Er war sich nicht sicher.
Die Nikon hatte er in der Tasche, als er zur Gerichtsmedizin ins Universitätskrankenhaus fuhr. Er hatte es satt, dass seine Sammlung von Fotografien toter Frauen mit Tätowierungen am Hals noch immer nicht komplett war.
Vera informierte er am nächsten Vormittag. Die Fotos lagen entwickelt auf seinem Lindenholztisch, als sie kam. Sie nahm die Lupe und las die drei Buchstaben, die vielleicht sogar ein wenig größer waren als die vorherigen.
»Ein Hexenkult«, sagte sie.
»Schraub es herunter. Dann denken wir beide das Gleiche.«
Vera sah ihn ratlos an.
»Hexenkult ist zu viel«, sagte Nick, »ich denke, es ist eine aus dem Gleis gelaufene Esoterik.«
»Du denkst an Frauen, die in Mondnächten gemeinsam menstruieren.«
»Du hast Recht. Das war wohl meine Assoziation.«
»Wer war die Tote?«
»Sie wissen es nicht. Keiner hat sie vermisst gemeldet.«
»Wie endlos traurig«, sagte Vera.
»Die Novembertote ist bis heute nicht identifiziert.«
»Stell dir vor, du stirbst, und keiner vermisst dich.«
»Nur Vera lässt irgendwann die Tür aufbrechen und findet den skelettierten Nick«, sagte Nick.
»Sie ist genau so jung und genauso blond wie die anderen.«
»Aber nicht so zart wie die beiden letzten.«
»Was sagt uns das?«
Nick zuckte die Achseln. »Es kann nach wie vor eine Frau sein. Dieses Erwürgen ist nicht nur eine Frage der Kraft, sondern auch des Überraschungseffektes.«
»Das ist allerdings überraschend, wenn dir eine Frau an den Hals geht statt eines Mannes.«
»Vielleicht ist das ihr Künstlername. Die Mondfrau.«
»Die Mondfrau«, sagte Vera, »hört sich tatsächlich an wie die Big Mama eines esoterischen Zirkels.«
»Sieben tote Frauen, um irgendeine idiotische Idee an die Welt weiterzugeben?«
»Glaubst du, das ist das Ende der Verkündigung?«
»O Gott«, sagte Nick, »könnte es weitergehen?«
»Was sagen denn die Herrn von der Kripo dazu?«
»Nachrichtensperre, sagen sie.«
»Das ist doch kein Entführungsfall. Sie können nicht einfach zwei Morde verschweigen.«
»Pit sagt, der Mörder suche eine Öffentlichkeit, die sie ihm nicht geben wollen.«
»Er mordet ja auch ohne Öffentlichkeit weiter.«
»Schon sind wir wieder beim männlichen Personalpronomen.«
Nick trat ans Fenster und sah auf den Küchenbalkon, in dessen Blumenkasten nur noch wenige grüne Halme Schnittlauch zwischen den trockenen Erika wuchsen.
»Und werden im Kreise gedreht«, sagte er.
Vera löste den Blick von den Fotos, über die sie sich wieder gebeugt hatte. »Was?«, fragte sie.
»Wir reiten auf hölzernen Pferden und werden im Kreise gedreht.«
»Du kennst ja Gedichte. Das hast du Leo vorenthalten.«
»Der Text eines Liedes, das in einem Konzentrationslager geschrieben worden ist. Für eine Überlebensrevue. Wer tanzt und singt und die SS amüsiert, stirbt noch nicht.«
Vera nickte. Das blieb Nicks großes Thema.
Leo war da wirklich nicht die richtige Frau für ihn. Sie neigte dazu, alle großen Traumata der Geschichte zu verdrängen.
»Wir drehen uns nicht im Kreise«, sagte Vera, »ich werde das Gefühl nicht los, dass wir schrecklich gelinkt werden.«
»Du meinst, die Mondfrau lockt uns auf eine falsche Fährte?«
»Vermutlich ist es doch ein eiskalter Killer, der Frauen hasst und diese Verzierung an ihren Hälsen zur Tarnung herstellt.«
»Keine von ihnen ist vergewaltigt worden«, sagte Nick.
Vera nahm die Lupe noch einmal auf und las das R, das A, das U. Der Mensch, der das verantwortete, hatte ein Wort gebildet. Genügte ihm das?
»Hast du in den letzten Tagen von Leo gehört?«, fragte sie.
»Ich stehe gelegentlich vor ihrer Tür herum, in der Hoffnung, sie oder diesen Harlan zu Gesicht zu bekommen.«
»Hältst du das für eine gute Idee?«
»Nein«, sagte Nick.
»Warum fällt mir Leo ein, wenn ich über diese Morde nachdenke?«
»Weil die toten Frauen ihr alle ähnlich sehen«, sagte Nick.
Vera seufzte. »Sie sehen auch der jungen Frau an der Kasse meines Feinkosthändlers ähnlich«, sagte sie. »Blonde Haare. Hübsche Gesichter. Irgendwie sind sie austauschbar.«
»Wenn sie tot sind«, sagte Nick, »vorher hatte sicher jede ihre eigene besondere Erwartung im Gesicht.« Er dachte daran, dass Pit einmal gesagt hatte, die Frauen hätten den Traum gehabt, sich über ihr Alltagsleben zu erheben.
»Hast du nicht mal gesagt, dass sie alle nicht gerade als
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