Vera Lichte 05 - Tod eines Heimkehrers
wirklich vorbei?
Vera zog die Klemme aus dem Haar, das ihr gleich weich in den Nacken und über die Schultern fiel. Sie zog die Schublade des kleinen Tisches auf, hatte in ihrem Gedächtnis das Wort »Bürste« gespeichert.
Nur Kleiderbürsten, die sie sah. Keine einzige fürs Haar.
Das Ausbeinmesser fand sie unter einem besonders schönen Stück aus Dachshaar. Kaum zu glauben, dass Anni das Messer verlegt hatte.
Vera zog das Ausbeinmesser vorsichtig unter den Bürsten und einem Tuch hervor, dass mit Lavandinöl getränkt war, das Mittel mit dem Anni die Motten vertrieb. Ging sie jetzt auch mit Messern auf Mottenjagd?
Anni saß auf dem Balkon und trübte kein Wässerchen. Guckte in die Dämmerung. Hing ihren Gedanken nach.
Sie blickte nicht mehr in den Spiegel, um auf die Suche nach der vergangenen Zeit zu gehen.
»Schläft die Knutschkugel schön?«, fragte Anni, ohne sich nach Vera umzudrehen.
»So gut beschützt«, sagte Vera und setzte sich neben Anni auf die weißlackierte Friesenbank. Das Ausbeinmesser legte sie auf den Tisch.
Anni guckte auf. »Wo hast du das denn her?«, fragte sie.
»Nicht aus der Küche«, sagte Vera.
»Ich habe gedacht, wenn er zur Tür hereinkommt.«
»Wer? Perak?«
»Traust du dem Frieden?«, fragte Anni.
»Die größte Angst ist, dass er sich an Nicholas vergreift«, sagte Vera, »aus Frust. Da er mich nicht kriegt.«
Anni nickte. Sie konnte diese Angst gar nicht laut aussprechen.
»Wir können nichts anderes tun, als wachsam sein«, sagte Vera. »Solange er nicht auffällig ist und uns bedroht, wird uns keiner helfen.«
»Dass Jan in letzter Zeit so oft unterwegs ist«, sagte Anni, »man fühlt sich einfach sicherer, wenn er da ist.«
»Glaubst du, dass Nick eine Freundin hat?«, fragte Vera.
»Wäre ihm doch zu wünschen«, sagte Anni. Gut, dass sie wieder in die Dämmerung sah und nicht Vera ins Gesicht.
»Ich nehme morgen ein Taxi zu Pedersen.«
»Nick hast du nicht erreicht?«
Vera schüttelte den Kopf.
»Sieht schön aus, das offene Haar«, sagte Anni, »solltest du öfter so lassen. Hat Hauke auch gesagt. Weißt du noch?«
Vera wusste noch. Sie seufzte.
Anni legte ihre kleine alte Hand auf Veras große. Ein leichter warmer Wind kam von der Alster. Streichelte die Blumen ein bisschen.
»Wen liebst du denn eigentlich, Kind?«, fragte Anni.
Vera schwieg.
Anni hatte auch keine Antwort erwartet.
Nick hatte seine Kollegin vor der Tür abgesetzt und war nach Hause gefahren. Ihren flüchtigen Kuss spürte er noch auf den Lippen.
Er setzte sich in das Glashaus an den Lindentisch. Öffnete den Veltliner. Goss ein. Er trank kaum mal einen teuren Wein. Gelegentlich kaufte er einen bei Engelenburg. Das Gehalt, das er bekam, versetzte ihn in einen kleinen Wohlstand verglichen mit den Zeiten, die hinter ihm lagen.
Life is too short to drink cheap wine.
Doch auch die weniger teuren Weine hatten ihn schon auf die Flügel der seligen Trunkenheit genommen.
Nick trank längst nicht mehr zu viel. Das lag hinter ihm.
Er öffnete die Fenster des Glashauses. Hörte die Insekten summen und die Vögel in der Dämmerung singen. Das kleine Glück.
Wie weit lebte er von seinen Träumen entfernt?
Träume, die Welt zu retten.
Träume von Familie und Geborgenheit.
Nein. Die Welt rettete er nicht mehr.
Doch die Verbitterung darüber war ihm abhanden gekommen.
Vera und Anni und der Kleine waren seine Familie.
Ging das verloren, wenn Vera sich an Engelenburg band?
Eine Verlustangst, die er bei Hauke nicht empfunden hatte. Irgendwas hatte sich geändert.
Nick stand auf, um Streichhölzer zu holen. Die Kerze anzuzünden.
Es ging auf zehn Uhr zu. Vorbei die hellen Nächte.
Vielleicht bescherte ihm das Leben noch eine Dora.
Wer hätte gedacht, dass Pit Gernhardt dieses Glück fände, wo er sich schon in der Rolle des einsamen alten Wolfes eingerichtet hatte.
Alles war möglich. Wundertüte Leben.
Er guckte in den Kühlschrank. Eine Kleinigkeit essen. Nick schloss die Kühlschranktür. Eigentlich wollte er doch nur Vera anrufen.
Saß sie auf dem Balkon und hielt Händchen mit dem Holländer?
Vielleicht war Engelenburg der Klassenfeind für ihn. Hielt er es denn immer noch mit Brecht und seinem Satz aus der Dreigroschenoper »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank«?
Engelenburg, der einstige Bankier, der die barocke Lebensart vertrat.
Vera hatte da deutlich mehr Brüche. Trotz des Geldes.
Oder dachte er sich Veras Wertephilosophie
Weitere Kostenlose Bücher