Verbannt
schreien, und mein geisterhafter Körper donnerte durch den Tunnel. Orientierungslosigkeit und Übelkeit nebelten mich ein. Gierig sog ich die kalte Luft in meine Lunge und fragte mich, wie es möglich war, dass sogar mein Geisterkörper sich übergeben wollte. Doch bald schon beruhigte mich das vertraute Gefühl zu schweben, und meine Höhenangst legte sich. Ein Geräusch unter mir erregte meine Aufmerksamkeit.
Der Anblick des riesigen Tempels erfüllte mich mit den unterschiedlichsten Gefühlen. Mein Zuhause! Eponas Tempel. Mein Körper schwebte sanft dahin, während ich die vertraute Aussicht in mich aufnahm. Es war später Nachmittag. Der Himmel begann bereits, sich in die zauberhaften Farben des partholonischen Sonnenuntergangs zu hüllen. Die cremefarbenen Mauern, die den Tempel umgaben, fingen das sich verändernde Licht auf und warfen es mit einem magischen Perlmuttglanz zurück. Unter mir konnte ich sehen, dass die Tempelwachen dabei waren, die vielen Fackeln und Laternen anzuzünden, die Eponas Tempel die Nacht über erleuchteten.
Ich erkannte einige meiner Nymphen, die von Hof zu Hof eilten, ihre geschäftigen Arme beladen mit feinstem Leinen oder mit Körben voll duftenden Kräutern.
Zu Beginn wirkte die Szenerie durch meine tränenverschleierten Augen liebenswert und normal, aber als ich genauer hinschaute, nagte etwas in meinem Kopf. Irgendetwas stimmte nicht – oder war zumindest sehr anders. Als zwei meiner jüngsten Nymphen schweigend aneinander vorbeigingen, merkte ich, was es war. Sie sprachen nicht. Nein, es war mehr als das. Ich schwebte näher. Es war nicht irgendein bizarrer Schweigebann, der über den Tempel geworfen worden war. Ich konnte die kleinen, mit Pantoffeln bekleideten Füße auf dem Marmorfußboden klappern hören. Eine der Wachen (deren muskulöser Körper nur unzureichend von einem dicken, pelzgefütterten Umhang bedeckt wurde, wie ich wohlwollend bemerkte) fluchte unterdrückt, als sie sich die Hand beim Anzünden einer zu schnell entflammenden Fackel verbrannte. Es lag also nicht dran, dass sie nicht sprechen konnten, sondern daran, dass sie es vorzogen, es nicht zu tun. Die Atmosphäre im gesamten Tempel wirkte depressiv. Die Luft selbst fühlte sich dick und bedrückend an.
Was, zum Teufel, war hier passiert?
Als wären meine Gedanken Anweisungen, denen mein Körper zu folgen hatte, schwebte ich in Richtung Zentrum des Tempels. Ich sank genau in dem Moment durch die gewölbte Decke, als die Sonne am westlichen Horizont unterging.
Meine Badekammer war ungewöhnlich dunkel und strahlte die Trostlosigkeit eines Raumes aus, der schon so lange Zeit leer stand, dass es kein Zuhause mehr war. Überwältigende Traurigkeit überkam mich, als ich sah, dass dieser Raum, in dem ich so viele mit Glück und Lachen erfüllte Stunden erlebt hatte, nur mehr eine leere Schale war.
Eine von einem Umhang mit Kapuze verhüllte Gestalt entzündete gewissenhaft die Kerzen in den goldenen Totenschädelhaltern, die in die ansonsten glatten Wände eingelassen waren. Ihre schlanken Hände zitterten, als sie von Kerze zu Kerze ging. Der Hauch von Verzweiflung, der die Frau umgab, war beinahe greifbar. Ihre methodischen Bewegungen wurden unterbrochen, als der dünne Stock, den sie als Streichholz benutzte, zu weit herunterbrannte. Sie schrie leise auf und ließ das schwelende Holz auf den Marmorfußboden fallen. Als sie sich beeilte, die glühende Spitze auszutreten, rutschte ihre Kapuze ein Stück nach hinten und enthüllte die weichen Konturen von Alannas Gesicht.
„ Oh, Freundin“, flüsterte ich, als ich die feinen Linien um ihre Augen bemerkte, die bei unserer letzten Begegnung noch nicht da gewesen waren. Sie zeigte keine Reaktion auf meine Geisterstimme. Stattdessen seufzte sie nur tief, griff in die Taschen ihres Mantels und holte ein weiteres Streichholz hervor, mit dem sie dann die restlichen Kerzen anzündete.
Ich spürte, wie mein Körper durch warme, dampfende Schwaden gehoben wurde. „Nein! Lass mich mit ihr sprechen!“, bettelte ich meine Göttin an.
Geduld, Geliebte.
Die Worte schwebten durch meinen Kopf und waren gleich wieder verhallt, wie die Geister, die sich von der Straße erhoben hatten. Zügig flog ich durch die Decke und schwebte dann zielgerichtet weiter nach Norden. Ich hatte schon genügend Traumreisen erlebt, um zu wissen, dass meine Göttin jetzt die Kontrolle übernommen hatte. Es gab etwas, das sie mir zeigen wollte. Es war das Beste, mich einfach
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