Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
geschrieben, und ganz offensichtlich hielt auch mein
Unterbewusstsein viel von Interpunktion, Rechtschreibung und Grammatik. Mehr
konnte ich allerdings nicht mehr feststellen, denn schon forderte mich
Professor Scott ungeduldig auf, mit dem Vorlesen zu beginnen.
„Rote
B…“ Oh nein. Stand da etwas von Roter Bete? Ich wollte mich gerade in
betretenes Schweigen versenken, als der Professor mit einem Blick auf die Uhr
drängte:
„Wir
warten!“
Ich
räusperte mich und heftete meinen Augen angestrengt auf das vollgekritzelte
Papier in meinen Händen. Mit belegter Stimme begann ich noch einmal: „Rote
Blutspuren ziehen sich über meine Schultern. Habe ich einen Schwan… einen schwankenden
Willen – zu leben? Andererseits sagt man dasselbe bestimmt auch von Kei…“
Auweia. Ich löste mich von dem unseligen Geschreibsel und deklamierte spontan
drauflos: „… von Kindern der Nacht, die zwischen düsteren Schatten ihr Unwesen
treiben“, und jetzt den Bogen schlagen zu meiner Einleitung, „dürstend nach
meinem Blut.“ Ich warf einen schnellen Blick auf den Zettel und begann einen
weiteren Satz zu lesen: „In meinem Ohr habe ich … Gift, hineingeträufelt von
meinem Widersacher“ (da kam mir ja der Hamlet gelegen!), „und es hilft
nichts, wenn ich mit schiefem Kopf – auf mein bitteres Ende warte. Aus
verführerisch schmalen Augen“, ich holte tief Luft und schloss, während ich das
Blatt sinken ließ, „sieht mir geduldig der Tod entgegen.“
Zumindest
in einer Hinsicht konnte ich meine Darbietung als Erfolg verbuchen: Selbst
Professor Grabowski hatte es noch nie geschafft, dass eine derart vollkommene
Stille im Klassenraum herrschte. Absolut jeder schien mich mit offenem Mund
anzustarren, bis irgendwo ein Glucksen ertönte und ich nur raten konnte, dass
es von Jinxy kam.
Schließlich
kratzte sich Professor Scott betreten am Kopf. „Das, hm, geht Ihnen also
während meines Unterrichts durch den Sinn, Lily?“
„Sieht
ganz so aus“, wisperte ich, und dann ertönte sie, die unvergleichliche,
anbetungswürdige Pausenglocke. Die anderen Schüler lösten ihre geweiteten Augen
von meiner Person und drängten sich um den Englischlehrer, um zu sehen, ob ihre
Monologe von ihm bereits korrigiert worden waren. Jinxy fand ihr Blatt sofort
und kicherte bloß unbekümmert über den knappen Kommentar, der in roter Tinte
unter ihrem Gekritzel prangte. Sie war bereits dabei, mich aus dem
Klassenzimmer zu lotsen, als ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie Professor
Scott Rasmus wohlwollend zunickte. „Sehr feinfühlig geschrieben“, konnte ich
gerade noch sein Lob hören, „viel zu ausgefeilt zwar, um einen realistischen
Gedankenvorgang darzustellen, aber Sie beweisen ein besonderes Talent für
Personenbeschreibungen.“
Rasmus‘
Erwiderung ging in dem Pausenlärm, der uns beim Hinaustreten auf den Flur
entgegenschlug, vollständig unter.
In
meiner Freistunde traf ich Sam im Studierzimmer. Sofort spürte ich unendliche
Erleichterung bei der Aussicht, nun endlich neben einer Person sitzen zu
können, die mir nicht ständig ins Ohr kicherte. „Hey“, flüsterte ich ihm zu,
während ich auf den leeren Platz neben ihm rutschte. „Solltest du nicht in
Informatik sein?“
„Heute
kommen neue Computer“, gab er ebenso leise zurück, „deswegen haben wir frei.
Ich dachte, ich erledige mal einen Teil meiner Hausaufgaben, da hat sich eine
Menge angesammelt.“
„Bei
mir auch“, nickte ich und wies dabei auf den Stapel Hefte, den ich mir
vorbereitet hatte. Zu spät bemerkte ich, dass meine Hamlet -Klausur, die
immer noch auf eine Verbesserung wartete, ganz zuoberst lag. Sam war es
natürlich nicht entgangen, und seine Miene verfinsterte sich.
„Das
hier dürfte dir zumindest nicht allzu schwer fallen, nachdem du gestern so
wertvolle Tipps bekommen hast“, murmelte er undeutlich.
„Du
hast mein Gespräch mit Jinxy also mitgehört?“, fragte ich, und als mir klar
wurde, wie angriffslustig das klang, schickte ich in einem sanfteren Tonfall
hinterher: „Dann weißt du doch auch, dass Rasmus und ich nur befreundet sind.“
Sams
Schnauben hätte ebenso gut von Jinxy stammen können. Schweigend fuhr er mit
seiner Lateinübersetzung fort.
„Sam,
sei bitte nicht so“, sagte ich hilflos. „Was genau ist denn eigentlich das
Problem?“
Ruckartig
hob er den Kopf. „Oh, ich habe absolut kein Problem, aber du vielleicht“, erwiderte
er, und es hörte sich überraschend bissig an. „Ich weiß ja nicht,
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