Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
im St. Christophorus und der Charmeur, der jetzt
vor uns stand, zwei völlig verschiedene Personen. Ich spürte, wie sich eine
Gänsehaut auf meinen Unterarmen bildete, und griff erneut nach Jinxys Schulter.
„Los,
lass uns gehen“, drängte ich, „die Mittagspause ist gleich vorbei, und wir
wollten doch noch schnell in die Bibliothek.“
„Fleißig
wie immer, Lily?“, mischte Eric sich ein, und sein vertraulicher Tonfall kam
mir merkwürdig fehl am Platz vor.
„Sie
meint, wir könnten dort vielleicht eine Inspiration für unsere Ballkostüme
finden“, erklärte Jinxy und verdrehte die Augen.
„Oh
ja, der Herbstball!“, sagte Eric, als hätte er bis zu diesem Zeitpunkt noch
keinen Gedanken daran verschwendet. Er machte eine geziert wirkende Verbeugung
und blickte mit einem breiten Lächeln zu uns hoch. „Könnte ich eine der Ladys
dazu bewegen, mich als ihren Begleiter zu erwählen?“
„Ich
bin schon vergeben“, meine Jinxy entschuldigend und warf mir einen raschen
Seitenblick zu, „und Lily …“
„Ebenfalls“,
fiel ich ihr rasch ins Wort, ohne Erics Lächeln zu erwidern. „Komm jetzt,
Jinx.“
„Bis
später dann“, rief meine Freundin noch zurück, während sie neben mir
herstolperte; dann knuffte sie mich vorwurfsvoll in die Seite. „Du solltest mal
deinen Gesichtsausdruck sehen! Wahrscheinlich war das gerade Erics
unerfreulichstes Erlebnis in dieser Woche, und wenn man bedenkt, dass er am Montag
einen Unfall hatte …“
„Schon
gut, du kannst ihm in deiner Zeichenstunde ausrichten, dass es mir leidtut“,
erwiderte ich, stieß die Türe zur Bibliothek auf und steuerte zielstrebig auf
eine Abteilung im hinteren Teil des Raumes zu.
„Wieso
sagst du es ihm nicht heute Abend selbst?“, hakte Jinxy sofort nach, ohne ihre
Stimme angesichts der über die Lesepulte geneigten Köpfe zu dämpfen. „Oder hast
du etwa nicht vor, zu der Party zu kommen? Und hat das womöglich etwas zu tun
mit einem gewissen …“
Abrupt
bog ich in eine Regalreihe ein und ließ die Finger rasch über die Buchrücken
gleiten. Als meine Freundin mich eingeholt hatte, hielt ich bereits einen
dicken Wälzer in den Händen, in dessen ledernen Einband die Worte Übernatürliche
Wesen und ihre Eigenschaften geprägt waren. Die Seiten des Buches waren
leicht vergilbt und strömten diesen gewissen modrigen Geruch aus, den ich
liebte und der Jinxy zum Niesen brachte. Ich überflog die kurzen Texte zu jedem
der Bilder, während meine Freundin mir über die Schulter linste und ab und zu
mit dem Zeigefinger in Richtung einer Überschrift stach.
„Schau
mal hier“, sagte sie und begann vorzulesen : „Der Werwolf ist eine
mythologische Gestalt, die sich bei Vollmond in eine blutrünstige Kreatur
verwandeln kann. Oft heißt es, er könne sich unnatürlich rasch von Verletzungen
erholen und nur durch Silberwaffen getötet werden. Das heutige Bild des
Werwolfs wurde durch die kürzlich erschienene Verfilmung ‚The Wolf Man‘
maßgeblich beeinflusst. Meine Güte, wieso hast du denn so ein altes Buch
ausgewählt? Das ist doch bestimmt schon siebzig Jahre her. Zu dieser Zeit sahen
die Fabelwesen noch so richtig hässlich aus.“
„Du
weißt doch, dass das für dich sowieso ohne Belang ist. Oder muss ich dich
wirklich an deine verlorene Wette erinnern?“
„Oh,
stimmt ja“, brummte Jinxy, „also ein Trollkostüm für mich. Wobei ich immer noch
der Meinung bin, dass du die ganze Sache komplett falsch angegangen …“
„Jinxy“,
unterbrach ich sie flehend. „Ich will wirklich nicht darüber reden.“
„Okay,
schon gut“, sagte sie hastig und blätterte weiter in dem Buch. „ Der Troll,
eine meist boshafte Figur aus der nordischen Mythologie, in Riesen- oder
Zwergengestalt. Ich könnte so spontan gar nicht sagen, was ich bevorzugen
würde.Hm … lass uns zur Sicherheit doch irgendeine etwas hübschere
übernatürliche Gestalt aussuchen. Ach, zum Beispiel den Engel.“
„Ich
könnte mir vorstellen, dass diese Flügel beim Tanzen ganz schön hinderlich
wären“, bemerkte ich.
„Dann
eben Luzifer“, antwortete Jinxy achselzuckend, nachdem sie auf der nächsten
Seite ein Bild von einem jungen Mann entdeckt hatte, dem von einer Heerschar
von Engeln die Flügel abgerissen wurden.
„Klar,
sieht bestimmt toll aus, so oben ohne und nur mit einem flatternden Tuch um die
Hüften.“ Ich inspizierte die nächste Abbildung, die denselben Mann zeigte, wie
er mit blutendem Rücken am Boden lag. „Und vielleicht sogar
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