Verborgen im Niemandsland
ihren Vater mit in den Fluss.
Einen Augenblick lang stand Abby vor Entsetzen wie gelähmt. Weder Emily noch ihr Vater konnten schwimmen! Ihnen drohte der Tod! Dann zerrte sie sich die Stiefel von den Füßen und sprang hinterher. Dass sie sich damit selber in höchste Lebensgefahr begab, daran verschwendete sie in diesem Moment nicht einen Gedanken. Sie wusste nur, dass sie nicht tatenlos zusehen konnte, wie Emily und Thomas McGregor vor ihren Augen ertranken.
Als sie auftauchte, sah sie, dass auch Andrew vom Floß gesprungen war.
»Bleib du auf der rechten Seite und kümmere dich um das Mädchen!«, schrie er ihr zu. »Ich suche den Vater!«
Die Strömung hatte den Ochsen, der wild um sich strampelte und immer wieder sekundenlang untertauchte, schon ein gutes Stück flussabwärts getrieben. Rechts von ihm kämpfte Emily unter schrillem Schreien um ihr Leben. Von ihrem Vater war nichts zu sehen. Er musste irgendwo links vom Ochsen, viel weiter in Richtung Strommitte, im Wasser treiben, aber das Zwielicht und der heftige Regen machten es ihr unmöglich, weitere Einzelheiten auszumachen. Und so konzentrierte sie sich allein auf Emily, so wie es ihr Andrew zugerufen hatte.
Abby schwamm zu ihr. »Ich komme!... Versuche, auf der Stelle Wasser zu treten!«, schrie sie ihr zu.
Emily schien sie nicht zu hören und ging immer wieder unter. Und wenn sie wieder auftauchte, spuckte sie Wasser und rang röchelnd nach Atem. Als Abby sie endlich erreichte, schlug sie in panischer Todesangst wild um sich und machte es ihr fast unmöglich, sie festzuhalten und mit ihr in Richtung Ufer zu schwimmen.
»Hör auf damit!... Nimm die Arme runter und dreh dich auf den Rücken!«, keuchte Abby, die bei Emilys heftiger Gegenwehr Mühe hatte, nicht selber unterzugehen. »Willst du, dass wir beide ersaufen?... Ich halte dich schon über Wasser!... Und da drüben ist schon das Ufer!... Es ist gar nicht mehr so weit!... Aufhören!« Sie schlug ihr hart ins Gesicht.
Der schmerzhafte Schlag hatte die erhoffte Wirkung. Emily gab ihren Widerstand auf und krallte sich in Abbys Kleidung. »Auf den Rücken!«, schrie Abby ihr noch einmal zu. »Ja, so ist es richtig!... Hab keine Angst, ich lasse dich schon nicht los! Wir schaffen es!... Und jetzt strampel mit den Beinen, das hilft!«
»Mein Vater... Wo ist mein Vater?«, stieß Emily würgend hervor.
»Andrew ist bei ihm!«, versuchte Abby, sie zu beruhigen, und zerrte sie unter Aufbietung all ihrer Kräfte dem Westufer entgegen. Ihr war, als zöge sie einen schweren, wasserdurchtränkten Mehlsack hinter sich her. Zum Glück lag das rettende Ufer keine zwanzig Yards mehr von ihnen entfernt. Aus der Mitte des Stroms, in die der Ochse und mit ihm wohl auch Thomas McGregor getrieben worden waren, hätte sie Emily kaum retten können. Auch so bedurfte es all ihrer Kraft und Willensstärke, um das Mädchen hinter sich herzuziehen.
Emily erbrach sich mehrmals, als Abby sie endlich an Land gezerrt hatte. Am ganzen Leib zitternd und weinend, kauerte sie im nassen Gras. »Mein Vater!... Wo ist mein Vater?«, wimmerte sie immer wieder. »Wo ist mein Vater?«
Abby legte ihren Arm um sie und drückte sie an sich. »Ich weiß es nicht«, sagte sie ehrlich, denn sie wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen. Niemand vermochte zu sagen, ob Andrews Rettungsversuch geglückt war oder nicht. Sie mussten auf alles gefasst sein und das sagte sie ihr auch.
Silas Mortlock, Vernon Spencer und Henry Blake tauchten wenig später bei ihnen auf und sparten nicht mit Lob und Bewunderung für Abbys Heldentat. Sie jedoch wollte davon nichts wissen. Dann eilten Silas Mortlock, der sich ein Seil über die Schulter geworfen hatte, und Vernon Spencer im strömenden Regen flussabwärts, um nach Andrew und Thomas McGregor Ausschau zu halten. Noch immer donnerte und blitzte es in schneller Folge.
Nun begann das quälend lange und angstvolle Warten, ob Andrew es geschafft hatte, Emilys Vater vor dem Ertrinken zu bewahren.
Mehr als eine halbe Stunde verging. Dann tauchten die Männer wieder auf - zusammen mit Andrew. Silas Mortlock und Vernon Spencer mühten sich mit dem schlaffen, leblosen Körper von Thomas McGregor ab. Sie brauchten kein Wort zu sagen, denn schon die Art, wie sie Emilys Vater trugen und wie seine Arme hin und her pendelten, verriet, dass kein Leben mehr in ihm war.
Emily gab einen verzweifelten, seltsam erstickten Schrei von sich, als die Männer den Leichnam ihres Vaters vor ihr ins Gras sinken ließen.
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