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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Hill
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niemand sie hört. Warum schreibe ich überhaupt? Meine Hände bewegen sich vor mir, aber die Buchstaben, die aus ihnen hervorgehen, sind stumm und unsichtbar. Mit der Doktorarbeit, die ich nie vollenden werde, hätte ich gar nicht erst anfangen sollen.
    Ich werde nicht mehr schreiben.
    Die Osterwoche hat begonnen.
    Ostern: das letzte Mysterium. Sogar der Name ist mysteriös. Seine Wurzeln liegen im Norden, in alten Wörtern für Licht und Morgenröte. Seine Wurzeln liegen im Süden, in den Namen von Göttern, die vor langer Zeit die befleckten Dämonen jüngerer, alles verschlingender Religionen wurden.
    Ostara , Althochdeutsch, von Ostar: der Sonne zugewandt. Darauf Ostar-manoth, April, der Monat der Öffnung und des Anfangs.
    Eostre , Göttin des Nordens. Kein Bildnis von ihr ist je ausgegraben worden. Keine an sie gerichteten Gebete sind erhalten. Nur ein Christ, der vor dreizehnhundert Jahren in einer Mönchszelle in Northumbria schrieb, nannte sie jemals beim Namen oder behauptete, Ostern sei ihr Fest.
    Ischtar , Göttin von Babylon. Königin des Himmels, Königin des Bogens, Licht der Erde, Öffnerin des Schoßes, die in die Unterwelt vordrang, eingekerkert wurde und sich die Freiheit nur durch das Gelöbnis erkaufen konnte, eine andere statt ihrer zu schicken. Als sie zu den Lebenden zurückkehrte und feststellte, dass ihr Gatte Tammuz nicht um sie trauerte, wie es sich gehört hätte, ließ sie ihn von den Dämonen holen; doch ihre Schwester Belili folgte ihm und flehte den Herrscher der Toten an, sie die Hälfte seines Leids tragen zu lassen, so dass nun Tammuz, der Gott der Fülle, immer noch jedes Jahr für sechs Monate in die sonnenhelle Welt zurückkehrt.
    Dazu, als wären sie babylonische Abkömmlinge, Aphrodite und Artemis, Orpheus und Persephone.
    Allerdings gibt es in Griechenland kein Ostern. Für sie ist es Pasoch, nach dem Pessach der Juden (deren Kult aus dem Osten kam, aus Ur und Babylon). Pessach : der Übergang von der Sklaverei zur Freiheit, vom Tod zum Leben, von der Erde zum Himmel, von der Nacht zum Licht.
    Es ist nichts Mystisches daran. Es ist nur ein zufälliger Gleichklang von Namen, ein Zusammenfluss von Themen und Klängen, Millennien geflüsterter Mitteilungen. Es gibt kein Mysterium, weil am Ende alles dasselbe ist, genau wie es am Anfang war. Dunkelheit herrscht. Dann wird Licht.
    Nichts bleibt jemals wirklich verborgen.
     

XV
     
    Verborgen
     
    Am Dienstag fanden sie die Krüge. In der Woche wimmelte es auf den Hügeln von Gewehren. Die Fastenzeit war fast vorüber: Die Lämmer gingen zur Schlachtbank. Eine Art Waffenstillstand war geschlossen worden, um Zusammenstöße hinauszuschieben. Missy war zur Grabung zurückgekehrt. Sie hielt sich an Chrystos und Giorgios, Themeus und Elias, arbeitete mit ihnen, wenn es etwas zu tun gab, hing herum, wenn nicht. Von den anderen hielt sie sich fern. Die Ausgrabung hatte sich in zwei Lager geteilt, Missy und die Griechen bei den Hütten und den alten Gruben im Norden einerseits, die anderen Ausländer an den neuen Gräben im Süden andererseits. Missy wirkte die halbe Zeit betrunken und sonst unglücklich. Ben sah, dass sie Angst vor ihnen hatte, sogar vor ihm. Sie sprach nur gelegentlich mit ihm – und mit den Übrigen nur, wenn er außer Hörweite war. Grabungspredigten gab es keine mehr. Die anderen vermissten sie nicht.
    Am Montag war sie eindeutig zu betrunken, um nach Hause zu fahren, und von da an holten die Brüder sie jeden Morgen ab und brachten sie am Abend wieder heim. Chrystos passte tagsüber auf sie auf. Er sprach mit ihr und brachte auch sie zum Sprechen, wann immer Gelegenheit dazu war. Hin und wieder sagte er etwas, was ihr ein Lächeln entlockte. Eine Zeit lang hielt sie dann den Kopf hoch und arbeitete, fast mit dem Stolz und der Tatkraft von früher. Ben fragte sich, ob sie stolz darauf war, dass sie zurückgekommen war. Es musste ihr schwergefallen sein. Nicht dass es mutig von ihr war. Ihr Schweigen sprach nicht von Tapferkeit, so wenig wie sein eigenes.
    Montagnacht, wach, allein – obwohl Natsuko immer noch neben ihm schlief –, wurde ihm klar, worauf er wartete: auf den Moment seiner eigenen Ohnmacht. Solange der Mann in der Höhle war, hatte er Macht über sie. Er konnte Kiron befreien, wenn er sich dafür entschied. Und trotzdem wünschte er sich, dass ihm die Entscheidung abgenommen wurde. Er wartete darauf, dass seine Macht verging. Darauf, dass ein Ende gemacht wurde.
    Die Welt wird nicht von den

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