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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Hill
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musste, sondern wie im Beichtstuhl ins Dunkle sprechen konnte.
    Es hatte ihn erstaunt, dass Untreue ihr angeblich viel weniger wichtig war als ihm. Sie bedeutete ihr weniger als ihre Ehe und ihr eigenes Glück. Ihre Einstellung dazu war pragmatisch. Wenn er mit einer anderen schlief, wollte sie es nicht wissen. Was hätte es ihr genützt, Bescheid zu wissen? Sie liebte ihn und wollte mit ihm glücklich sein, auch wenn das bedeutete, dass er sie belügen musste. Zumindest das hatte er respektiert. Er log gut, hatte er gedacht.
    Das waren alles mögliche Gründe, aber nichts davon war für Emine Grund genug. Sie hatte sich gegen die Vorschriften ihrer Religion von ihm scheiden lassen. Sie würde nie wieder kirchlich heiraten. Sie hatte gesagt, er sei eine Gefahr für sie, für Leib und Seele. Er hatte immer gewusst, dass sie eigentlich Ness meinte. Erst die Was-wenn-Kinder und die Eines-Tages-Kinder, dann das Kind, das nach ihnen auf die Welt kam.
    Als sie sich kennenlernten, hatte Emine vier Kinder haben wollen. Er hatte sie damals ausgelacht und es hinterher bereut. Sie war das einzige Kind getrennt lebender Eltern, eines Katholiken und einer türkischen gemäßigten Muslima, die durch Heirat Katholikin und nach der Trennung leidenschaftliche Muslima geworden war. Cousins und Cousinen hatte Emine nur mütterlicherseits; sie waren allesamt durch das Mittelmeer und die beiderseitige Feindseligkeit ihrer Eltern von ihr getrennt. Als Kind hatte sie sich immer Geschwister gewünscht.
    Er hatte den Augenblick verpasst, in dem sie die Rollen getauscht hatten. Er hatte sich Familie immer als etwas Schönes vorgestellt, aber nie drauf gedrängt, Vater zu sein. Er hatte zugestimmt, wie in vielen anderen Dingen auch; weil es ihn glücklich machte, sie glücklich zu sehen. Dass er möglicherweise immer Angst empfunden hatte, sobald sie das Thema anschnitt, wurde ihm erst im Nachhinein bewusst. Und erst im Nachhinein hatte er sich auch gefragt, ob ihre Liebe zu ihm schon damals nachgelassen hatte. Irgendwann hatte sie aufgehört, von Kindern zu sprechen, und als sie wieder damit anfing, ging es um den Sinn, den Kinderlosigkeit möglicherweise haben könne.
    Als er sich zum ersten Mal dabei ertappte, dass er für die Familie argumentierte, hatte er laut lachen müssen. Sie waren mit dem Auto irgendwohin gefahren. Er hatte versucht, es Emine zu erklären, dass sie beide eine Kehrtwendung vollzogen hatten, aber Emine hatte das nicht lustig gefunden und ihm nur gesagt, er solle auf die Straße schauen. Und es war natürlich in der Tat nicht lustig gewesen, sondern nur seltsam. Er hatte über seine eigene Verwirrung gelacht.
    Als er später an dem Tag allein war, hatte sich diese Verwirrung allmählich zu Angst verfestigt.
    An dem Abend, an dem Nessie gezeugt wurde – jedenfalls glaubten sie beide, dass es in der Nacht geschehen war –, waren sie mit einem Kollegen in London essen gewesen. Es war Mai und sehr warm, die Landschaft von Oxfordshire säuregelb von Rapsfeldern. Das Essen war eher eine Pflichtübung als ein Vergnügen. Sie hatten in der Woche beide bis spät in den Abend gearbeitet, und zum Ausgleich trank Emine zu viel.
    Er behielt sie den ganzen Abend im Auge, einen halben Tisch entfernt. Er wollte nichts anderes, nur sie, wollte sie für immer. Er fuhr zurück durch die schwüle Dunkelheit Londons, und sie redete, um ihn wach zu halten – analysierte den Abend, wiederholte schlechte Witze, lachte über Peinlichkeiten und den einen oder anderen Fauxpas. Auf der Fahrt waren sie beide müde, doch beim Anblick ihres Zuhauses wurden sie wieder munter.
    Vor dem Einschlafen liebten sie sich, wie immer ohne Schutz – damit hatte Emine sich nie anfreunden können. Es fiel ihnen leicht, einander aufzureizen; sie kannten sich gut. Aber für ihn hatte sich schon etwas Neues eingeschlichen. Ein bis dahin unbekannter Hunger.
    Vom Trinken benebelt, hatte er alles noch einmal durchdacht. Dann hatte er begonnen, sie zu vögeln. Er hatte ihre Beine über seine Schultern gelegt und sich anfangs nur sachte bewegt, während ihr Körper sich anpasste. Er wusste noch, wie er in ihre dunklen Augen hinabgeschaut und gesehen hatte, dass alle Sanftheit aus ihnen gewichen war, die Pupillen riesig und begierig nach ihm. Ihr Orgasmus war langsam und eher schwach, vom Alkohol gedämpft, aber als er selbst kam, war es so gewaltig, dass er fast ohnmächtig wurde. Alte Stimmen hatten sich in diesem Zustand wieder gemeldet, Londoner Männer, die

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