Verborgen
Sparta bereits tot. Vielleicht war ihm das aber noch nicht bewusst. Die letzten Spartiaten kämpften und fielen. Der Feind trampelte sie in den Morast ihres eigenen Fleisches. Die Wiesen am Eurotas brannten. Die starken Frauen von Sparta rannten kreischend auf die Straßen. Es muss ihnen fast so vorgekommen sein, als wäre der Taygetos niedergerissen worden. Die Götter, die sie liebten, hatten sie im Stich gelassen. Der spartanische Traum war zunichte gemacht worden. Und worauf setzten sie von da an ihren Glauben?
Was war Sparta ohne seine Heloten? Eine veraltete Waffe. Ein Geschöpf, perfekt an Welten angepasst, die für immer untergegangen waren. Ein Lebewesen, das sich nur von einer bestimmten Vogelart oder einer bestimmten Frucht ernähren konnte, die aber selbst ausgestorben war.
Und welchen Nutzen zog Theben aus seinem Sieg? Was wurde aus der Heiligen Schar, die das größte Heer der Welt besiegt hatte?
Theben wurde zu einer bloßen Fußnote zwischen Aufstieg und Fall von Mächten, die größer waren, als es selbst je sein würde. Die alten Stadtstaaten von Hellas hatten einander bis zum Stillstand bekämpft, hatten sich in den Staub der Ebenen gebohrt. Die Genialität der Thebaner wurde nachgeahmt und übertroffen. Dreiunddreißig Jahre nach Leuktra wurde Theben von den Makedoniern aus dem Norden vernichtend geschlagen. Nur die Heilige Schar hielt stand. Die meisten von ihnen starben dort, wo sie standen. Als der König der Makedonier nach der Schlacht an die Stelle kam, wo sie lagen, weinte er und rief den Umstehenden zu:
Verflucht soll sein, wer glaubt, dass diese Männer etwas Schimpfliches tun oder leiden.
Die Liebenden der Heiligen Schar haben nie die Welt bezwungen. Die Makedonier begruben sie, wo sie gefallen waren, und errichteten ihnen ein Denkmal in der Gestalt eines Löwen. Doch das Denkmal geriet schon bald in Vergessenheit. Die Geschichte der Schar wurde zweifelhaft, ungewiss, mythisch.
Im Jahr 1818 wurde das Denkmal entdeckt. Im Jahr 1879 wurde das Grab ausgegraben. Zweihundertvierundfünfzig Skelette wurden dort gefunden, in sieben Reihen säuberlich nebeneinandergelegt.
IX
Begräbnisse
H ast du einen anderen ? Es liegt nicht an mir. Es liegt an dir.
Er träumte immer noch von ihr. An den meisten Tagen meinte er sie morgens zu spüren. Es war nichts Bestimmtes, nur ihre anheimelnde Wärme und, unter der Wärme, die kalte Ahnung dessen, was er getan hatte. Schuldgefühle, immer wieder Schuldgefühle, flüchtig und bösartig wie ein Schatten auf einem Röntgenbild. Er ertappte sich dabei, dass er an sie dachte beim Graben, und dann brachte ihn die Vergangenheit zum Schweigen, schnitt ihn von den anderen ab.
Er rief sich in Erinnerung, was er an ihr geliebt hatte. Immer noch an ihr liebte. Nessie. Nessie als sie selbst, aber auch als die Summe ihrer beider Teile, als das Beste und das Schlechteste von ihnen.
Andere, weniger wichtige Dinge. Emines Vorliebe für Wäscheleinen. Einmal, im Zug nach London, hatte er sie gefragt, was sie an ihnen finde, und sie hatte gelacht und gesagt, das würde er nicht verstehen. Und dann zeigte sich, wie auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten mit ihr, dass er es tatsächlich nicht verstand, obwohl er sich Mühe gab. Vielleicht – dachte er, während er die Erde bearbeitete – hatte sie etwas Festliches in ihnen gesehen. Die bunten Fahnen der Röcke und die Unterwäschegirlanden draußen in der Sonne. Das konnte er beinahe nachvollziehen, obwohl diese häuslichen Spektakel seiner Meinung nach peinlich waren, indiskret. Gewöhnlich , hätte seine Mutter beim Blick über die Nachbargärten gesagt – sie selbst hatte ihre Wäsche immer auf Ständer und über Heizkörper gehängt.
Dass sie den Geruch von Benzin mochte und an der Tankstelle jedes Mal verstohlen das Fenster herunterkurbelte, als handelte es sich dabei um ein verbotenes Vergnügen. Dass sie mit alten Männern flirtete, als gehörte das zum guten Ton. Dass sie sich bei Regen gern unter Bäume stellte. Dass sie Gespräche über Sex oder Geld nicht ausstehen konnte, weshalb er sie anfangs für schüchtern gehalten und schon befürchtet hatte, sie hätte Vorbehalte gegen Sex als solchen.
Ihren Körper. Die Mulden an ihrem Hals. Die Mulden in ihren Kniekehlen. Die Haut dort, jede Höhlung so straff und heiß wie eine Fontanelle. Fast fiebrig, die Hitze dort. Er hatte sie einmal im Schlaf dort geküsst. Nicht ihre Brüste oder ihr Geschlecht, sondern ihre Kniekehlen.
Weitere Kostenlose Bücher