Verborgen
Terminator-Brille und Bergstiefeln –, dass er zweimal hinschauen musste, obwohl er mit ihr gerechnet hatte.
Ihr Lächeln verflüchtigte sich, als sie ihn sah. Als hätte sie auf jemand anderen gehofft.
»Was machen Sie denn hier?«
»Weiß ich noch nicht«, sagte er, und dann, in dem halbherzigen Versuch, seine Anwesenheit zu legitimieren: »Chrystos hat mich hergefahren.«
»Natsuko.«
Es klang wie ein Tadel, dunkel vor Enttäuschung. Natsuko zog den Kopf ein.
»Du warst beschäftigt.«
»Beschäftigt, so so. Wusstest du, dass es Ben war?«
»Die Sprechanlage ist kaputt.«
»Also hätte es jeder sein können.«
»Aber ich bin nicht jeder. Also alles in Ordnung.«
Ihre Augen richteten sich wieder auf ihn, blauer als blau. In den Sachen wirkte sie irgendwie weniger amerikanisch, europäischer, ihre Augen so blau wie der Himmel auf Ansichtskarten aus Österreich.
»Ich nahm an, Missy dachte, ich könnte aushelfen …«
»Sie hat uns nichts gesagt.«
»Mir auch nicht. Aber mir ist das gleich. Ich kann auch wieder ins Bett gehen, noch ein bisschen schlafen wär nicht schlecht …«
»Nein.« Sie rieb sich die Stirn, als ob er ihr Kopfschmerzen verursachte. »Nein, was soll der Quatsch. Jetzt sind Sie schon mal hier. Außerdem regnet es.«
»Danke.«
»Nehmen Sie’s mir nicht übel. Ich hab nur nicht mit Ihnen gerechnet, das ist alles. Außerdem hat Stanton recht, Sie können sich nützlich machen. Es ist immer zu viel für uns. Die Jungs wollen da nicht ran. Kein Dreck, kein Ruhm. Haben Sie schon mal ein Labor von innen gesehen?«
»Ich werd schon klarkommen.«
Eleschen sprach über seinen Kopf hinweg, schloss mit einem Hüftschwung die Tür, steckte das vorwitzige Ohr unter das Tuch, kam um den Tisch herum, zeigte ihm die Schränke und die Computer und legte besitzergreifend eine Hand auf das memento mori des Schulterblattes.
»Fragen Sie, bevor Sie irgendwas anfassen. Wir heben viel vor Ort auf, und wir haben die Fundhütte, aber die hat nur ein Vorhängeschloss, und wir müssen aufpassen. Die echten Schätze bewahren wir hier auf, soweit wir überhaupt welche haben, außerdem die Datenbank und die schriftlichen Unterlagen. Darüber hinaus können wir hier die grundlegenden Messungen und chemischen Analysen vornehmen. Die Hardcore-Technik – Elektronenmikroskop, Röntgen-Mikrosonde – lassen wir extern machen. Stanton besteht darauf, dass wir mit Harris-Matrizen arbeiten, und sie hat auch ein paar neue Ideen hinsichtlich Keramik-Seriation und Palynologie … Kommt Ihnen irgendetwas davon bekannt vor?«
Er kannte es alles. Sie sprach schnell, um ihn aufs Glatteis zu führen, dachte er, aber es waren alles grundlegende Dinge, ein Kinderspiel im Vergleich zu der anstrengenden Woche Ausgrabung. Er setzte sich neben sie, vermaß Fundstücke und tütete sie ein, beschriftete sie nach Missys skurrilem System, ergänzte zahllose bereits vorhandene Aufzeichnungen durch eigene Messergebnisse. Abwechselnd wogen sie die Überreste auf einer elektrischen Juwelierwaage.
Alle drei trugen sie Chirurgenhandschuhe, als säßen sie um einen Operationstisch. Die Tupperschüsseln standen offen zwischen ihnen, ihr Inhalt dem Licht der Schreibtischlampen ausgeliefert. Die gebärfreudigen Krümmungen von Amphoren. Die massakrierten Überbleibsel von Tierknochen. Die Ränder von Gefäßen.
Minute für Minute entspannte sich die Atmosphäre weiter. Geredet wurde nur das Nötigste. Die Stereoanlage lief, doch die Musik hatte von Radiohead zu etwas gewechselt, was er nicht kannte, einem wortlosen synthetischen Soundtrack, seicht und beruhigend.
Der Himmel klarte auf. Er merkte es erst, als er sich zurücklehnte, weil er pinkeln musste. Das Licht verfing sich in Eleschens Haar. Hier und da war eine Strähne dem Turban entkommen. Sie saß absolut unbeweglich da, in die Knochen vertieft, die sie in Händen hielt, doch der Luftzug vom Treppenhaus her erfasste die Strähnen und bewegte sie, während die Sonne sie anstrahlte und sie weiß wie Glühdrähte aufleuchten ließ.
Sie war wunderschön. So schön, dass sie beinahe asexuell wirkte. Unbefleckt. Sie hatte nichts Fruchtbares. Es fiel schwer, sie anzuschauen oder auch nur neben ihr zu sitzen, ohne dabei zu verweilen. Sie war klassisch schön: wie eine antike Statue aus pentelischem Marmor. Sie hatte die gleiche Blässe und die gleichen Proportionen.
Vor Jahren hatte er erfahren, dass die Hellenen ihre Statuen bemalt hatten. Die grellen Farben waren im Lauf der
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