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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Hill
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Jahrhunderte verblasst. Das war eine Entdeckung, die ihn zutiefst enttäuscht hatte. Er hatte das fast als empörend empfunden. Als Junge hatte er geglaubt, dass die antiken Statuen ohne Verzierung vollkommen waren. Ihre karge Strenge war für ihn ein nicht wegzudenkendes Element ihrer Schönheit gewesen. Die Züge von Göttern und Ungeheuern, den sterbenden und den siegreichen, allesamt so makellos wie Eis.
    Er fröstelte. In dem Labor war es eisig, obwohl er unten in der Bäckerei die Arbeiter herumlaufen hörte. Er konnte das Brot riechen und die Wärme der Backöfen durch den Fußboden spüren. Er hätte am liebsten seine Jacke angezogen, genierte sich aber, weil es den Mädchen anscheinend nichts ausmachte. Es war so kalt, dass er Eleschens Körperwärme spürte, ihr Arm nur eine Armbreite von seinem entfernt.
    Es ging auch ein Duft von ihr aus, nicht nach irgendetwas, was er erwartet hätte – Seife, Haut oder Parfüm –, sondern ein leicht unangenehmer Geruch, chemisch scharf, und da ihm die Läuse einfielen, schaute er auf und begegnete Natsukos strafendem Blick.
    »Finden Sie, dass ich französisch klinge?«, fragte Eleschen unvermittelt, und Natsuko wandte den Blick ab.
    »Französisch?«
    »Wenn ich Griechisch spreche. Mein Akzent. Themeus sagt, ich klinge wie die Franzosen. Finden Sie das auch?«
    »Ist mir nicht aufgefallen. Was hat er gemeint …«
    »Er wollte ihr nur schmeicheln. Er ist einer von Eleschens Bewunderern «, sagte Natsuko feixend, und Eleschen machte tss .
    »Ich versteh nicht, warum du so eifersüchtig bist. Du hast doch bestimmt auch Bewunderer. Meinen Sie nicht, dass sie Bewunderer hat, Ben?«
    Ihm wurde mulmig unter den fragenden Blicken der beiden Frauen. Als sie dann lachten, war es fast eine Erleichterung.
    »Ben, Sie drehen und winden sich ja!«
    »Mir ist nur ein bisschen kalt.«
    »Klar. Wir veräppeln Sie bloß. Spaß muss sein. Aber egal, Eberhard sagt, Sie sind in Oxford?«
    »Mehr oder weniger.«
    »Gefällt es Ihnen dort?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Nein? Ich hab mir das immer anheimelnd vorgestellt. Elfenbeintürme. Tee und Crumpets. Romantische Abende am Heizstrahler. «
    Er räusperte sich, fühlte sich immer noch unbehaglich bei dem Gespräch, obwohl er es gewollt hatte, obwohl er seit einer Stunde hoffte, dass eine von beiden wieder mit ihm reden würde.
    »Es hat seine Höhen.«
    »Ah«, sagte sie, als seien nur gelegentliche Höhen eine Enttäuschung. Dann: »Machen Sie das gern?«
    »Was?«
    »Wenn wir die Stücke alle gewaschen und ausgelegt haben und darangehen, sie zu analysieren, sie wieder zusammenzusetzen, finden Sie das nicht toll? Das ist doch einfach unglaublich. Es ist wie ein Puzzle, nur dass Puzzles im Gegensatz zu dem hier nichts bedeuten.«
    »Ich sehe das auch so«, sagte er. »Manchmal.« Doch sie verzog den Mund und lachte, als hätte er sie nicht überzeugt.
    »Also ich sehe es immer so. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal etwas Ähnliches wie das hier gemacht habe. Etwas wie Archäologie. Da war ich noch ganz klein. Wir haben an der Landstraße gespielt, wo wir eigentlich nicht sein durften. Ich hab eine Puppe gefunden. Eins von den Modellen zum Aufziehen. Sie hatte ein hübsches Kleid an und eine Schnur in der Brust, und wenn man an der Schnur zog, hat sie geweint wie ein Baby. Vermutlich hatte ein kleines Mädchen sie aus einem Auto fallen lassen. Ich habe damals auch noch mit Puppen gespielt, aber ich wusste, dass meine Eltern mich diese nicht behalten lassen würden. Sie war … na ja, alt und verdreckt, aber ich wollte sie haben. Ich hab sie draußen am Wasserturm versteckt. Immer wenn ich mit ihr spielen wollte, bin ich da hingegangen. Ich hab oft an das kleine Mädchen gedacht. Ich hätte gern gewusst, wer sie war und warum sie ihre Puppe verloren hatte. Etikett hab ich keins gefunden. Ich beschloss, sie auseinanderzunehmen. Ich dachte, vielleicht finde ich in ihrem Inneren etwas, was mir sagt, woher sie kommt. Ich hab zu Hause ein Messer und eine Schneiderschere stibitzt und sie aufgeschnitten. Und innen drin war dieses Ding.«
    Sie hielt inne. Sie runzelte die Stirn, lächelte aber immer noch, als hätte sie die Geschichte zu ihrem eigenen Vergnügen begonnen und jetzt gemerkt, dass sie dafür nicht interessant genug war.
    »Was für ein Ding?«, wollte Natsuko wissen. Eleschen gab sich einen Ruck und sah die anderen beiden kopfschüttelnd an.
    »Ein Grammophon. In ihrer Brust. Genau da, wo die Schnur herauskam. Ihr glaubt mir nicht,

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