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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Hill
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heilten nur langsam und unvollständig. Sie hatten eine Hartnäckigkeit an sich, die ihn beunruhigte.
    Dann war da noch der Geruch. Kaum hatte er den Fuß in das Restaurant gesetzt, waren dessen Gerüche in seine Kleider und in ihn selbst hineingekrochen – Salmiakgeist, gebratenes Fleisch, rohes Fleisch –, und selbst an seinen freien Vormittagen, wenn er las oder im Park spazieren ging, haftete etwas wie Hunger an der Peripherie seines Bewusstseins.
    Er war nicht immer unglücklich. Es war schwere Arbeit für zarte Hände, aber er wusste, er würde sie überstehen. Er verstand genug von Scham, um sich ihrer nicht zu schämen. Wenn er den unersättlichen Appetit der Gäste sah und das Essen, das als Abfall in die Küche zurückging, widerte ihn das Restaurant an, und auch wenn er sich nicht dort aufhielt, hasste er die Stumpfsinnigkeit der Arbeit. Manchmal aber war es anders. Die Schichten waren mörderisch, doch sie hatten einen Rhythmus, in dem er sich gefangen sah, wenn er am wenigsten daran dachte, es gab regelmäßige Abläufe, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderten, er brauchte das Gespür eines Tänzers für alle, die um ihn herum waren, er musste Rudelverhalten an den Tag legen; er wendete Fleisch, erteilte Anweisungen, nahm Anweisungen entgegen, und wenn er aufsah, stellte er überrascht fest, dass Stunden vergangen waren und die Sonne draußen schon in der Abenddämmerung versunken war.
    Mit anderen zusammen sein. Dazugehören.
    Am deutlichsten war das, wenn im Restaurant die größte Hektik herrschte, wenn die Hitze und die zermürbende Nervosität in der Küche kaum noch auszuhalten waren. Dann trat er aus diesem Backofen in die Kühle und die gedämpfte Geräuschkulisse des Gastraums, ohne jedoch in der kurzen Zeit Linderung zu erfahren. Kostandin hatte recht gehabt: Die Arbeit fraß die Zeit auf. Sie verschlang nicht nur Stunden, sie verschlang ganze Tage – wenn man es zuließ, vielleicht sogar Jahre –, und eines Morgens, als er in der Neun-Uhr-Stille erwachte, blieb er reglos liegen, zählte die Tage und stellte fest, dass er bereits seit zwei Wochen in Athen war. Sein Geburtstag war vor zwei Tagen sang- und klanglos verstrichen. Er war fünfundzwanzig geworden, ohne es zu merken.
     
Wieder träumte er von seiner Frau und seinem Kind. Sie sahen genauso aus wie beim ersten Mal, erstarrt, als warteten sie in einem angehaltenen Film auf ihn. Im Fenster hinter ihnen blinkten die Sterne. Gemeinsam flogen sie durchs Dunkel ins Dunkel.
    Wie falsch es gewesen war, sie zu verlassen. Seine Träume offenbarten es als den Fehler, der es war. Er hätte nie aus Oxford weggehen dürfen. Er hatte zu schnell aufgegeben, so viel er und Emine auch falsch gemacht hatten, so viel Unrecht er ihnen auch angetan hatte.
    Nessies Gesicht war tränennass. Der Faden in ihren Lippen löste sich. Ihr Mund bewegte sich, suchte sich von seinen Fesseln zu befreien.
    Er sah sie an und schüttelte seinen Traumkopf. Seine Tochter wollte ihm etwas sagen. Sie lag da wie immer, wenn sie schlief, eine Hand in ihrem Haar vergraben. Der Arm ihrer Mutter hielt sie von ihm fern. Er beugte sich zu ihr hinab, um ihre Worte zu verstehen. Die groben Fäden streiften sein Ohr. Ihre Hand kroch wie schutzsuchend in seine.
    Du hast nichts falsch gemacht, Ben. Du hast uns nicht verlassen. Irgendwann wirst du’s tun , sagte sie, aber es war nicht ihre Stimme. Aber nicht jetzt .
     
Er begann die Zeit in Arbeitsschichten zu messen. Seine Welt verengte sich auf die des Kochens und Kellnerns. Auf den erhöhten Teil und die tückische Stufe. Das Aufflammen von Fett. Das Brutzeln und Spritzen von Fleisch. Die ölvergoldeten Stahltöpfe. Den Fisch so grün wie Seladon, so matt glänzend wie Blei, so rosa wie aufgeschürfte Haut. Das seltene Lachen der Albaner. Das Vier-Liter-Gurkenglas, das im Küchenhof zerbrach, die Essiggurken, die in der Sonne schrumpften, so dass sie aussahen wie tote Eidechsen. Die ordentlichen Schalottenbündel. Weiße Fliesen mit Hühnerblut in den Fugen. Die Ausgüsse voller Innereien. Die grölenden Betrunkenen auf der Straße draußen, denen die ganze dunkle Nacht offenstand.
     
Als Ben in dem Grillrestaurant anfing, war Nikos gerade mit Freunden zum Skilaufen in den Bergen gewesen. Er lernte ihn erst später kennen. Sein Vater war ein beleibter Mann, auf den alten Fotos über dem Tresen noch auf träge Weise kampflustig, jetzt aber milder und nach Jahrzehnten im Geschäft fett geworden. Nikos war anders. Er war

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