Verborgene Liebesglut
„Ich bin bald wieder bei dir, mein junger Freund", flüsterte er sanft. Fürsorglich strich er die Decke des Krankenlagers glatt und verließ, gefolgt von Stanton, den Raum. Vor der Tür stieß er auf den Arzt, der ein Nickerchen auf einem der unbequemen Damensofas hielt. Als Wilcox ihn ansprach, sprang er erschrocken auf. Der Lord bat ihn, solange er in Angelegenheiten seines Haushalts unterwegs war, seinen Platz am Bett des Patienten einzunehmen. Kaum hatte er diese Bitte geäußert, trat Lady Fairfax aus dem Schatten des Korridors und gesellte sich zu den beiden Männern. „Wilcox, mein Lieber", flötete sie in süßlichem Tonfall, „Sie werden dem guten Doktor doch wohl seine verdiente Ruhe gönnen. Ich werde die Wache am Bett unseres Patienten übernehmen."
Wilcox blickte sie unschlüssig an. Woher kam plötzlich all diese Anteilnahme für Philippe? Lady Fairfax war bestimmt keine Frau, die sich durch Mildtätigkeit auszeichnete, schon gar nicht, wenn es sich bei der bedürftigen Person um einen Diener handelte. Es war bekannt, daß die Arbeitsbedingungen auf dem Fairfax'schen Anwesen Morlay Hall mehr als katastrophal waren. Wurde ein Diener krank, so setzte ihn die Lady kurzerhand vor die Tür. Wenn eine untergeordnete Person für sie nicht mehr von Nutzen war, kannte sie kein Erbarmen. Mehr als einmal hatte sie Wilcox ermahnt, im Umgang mit seinen Dienstboten härter durchzugreifen. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie ihm als Gastgeschenk eine kleine Ledergerte überreicht, die sie speziell zum Zweck der Züchtigung unbotmäßiger Stubenmädchen und Lakaien hatte anfertigen lassen.
Doch für Philippe schien sie von ihren Prinzipien abzurücken, und Wilcox konnte sich diesen Sinneswandel einfach nicht erklären. Deshalb schauderte ihm bei dem Gedanken, den Kranken der Obhut Lady Fairfax' zu überlassen. Doch was blieb ihm anderes übrig, als zuzustimmen? Seine Ehre als Gentleman verbot es, die Hilfsbereitschaft einer Dame mit Undank zu vergelten. Er verbeugte sich leicht vor Lady Fairfax und sprach ihr seinen Dank für ihre Aufmerksamkeit aus. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen schritt Lady Fairfax auf die Tür des Krankenzimmers zu und verschwand.
Wilcox wandte sich an Stanton. „Wir wollen keine Zeit verlieren", bemerkte er mit einem Stirnrunzeln. „Ich möchte die Freundlichkeit der Dame nur ungern über Gebühr beanspruchen." Er ließ den Arzt stehen, der sich dankbar auf dem Sofa niederließ, und schritt eilig mit Stanton im Schlepptau den Korridor entlang in Richtung Wirtschaftstrakt.
Als er die Küche betrat, bot sich ihm ein seltsames Bild. Die gesamte Dienerschaft hatte sich vor dem großen Kamin versammelt. Offensichtlich hatten sich die Dienstboten schon früh zu Bett begeben, denn die meisten waren nur mit ihren Nachtgewändern bekleidet und gerieten in arge Verlegenheit, ihrem Herrn in diesem Aufzug zu begegnen. Wilcox nahm die beschämten Blicke seines Personals jedoch nicht wahr, denn seine Aufmerksamkeit wurde von einem herzzerreißenden Schluchzen, das aus dem hinteren Teil des Raumes kam, in Anspruch genommen. Gladys, das dritte Stubenmädchen, klammerte sich verzweifelt an Major Livingston und gab jämmerliche Laute von sich. Am großen Eßtisch, der den Mittelpunkt der Küche bildete, saß Fiorinda Fairfax leicht vornübergebeugt, da sie offensichtlich immer noch etwas derangiert durch den übermäßigen Genuß der eingelegten Früchten war und große Mühe hatte, Haltung zu bewahren.
Wilcox schenkte ihr keinerlei Beachtung, sondern wandte sich direkt an den Major, der vergebens versuchte, einen gescheiten Satz aus Gladys herauszubekommen.
„Was zum Teufel ist hier los?" erkundigte sich Wilcox bei seinem Freund.
Der Major wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als Gladys auf die Knie sank und Wilcox' Schenkel umfaßte. Wie ein verschrecktes Reh blickte sie zu ihm hinauf und flehte mit zitternder Stimme: „Verzeihen Sie mir, Mylord, verzeihen Sie!" Inzwischen hatte sich Stanton dazugesellt und gebot Gladys in strengem Ton, zu schweigen und von ihrem Herrn abzulassen. Grob packte er das Mädchen bei den Schultern und versuchte, es wegzuzerren. Doch wie eine Ertrinkende umklammerte sie die kräftigen Beine des Lords und schrie dabei wie am Spieß. Wilcox erkannte, daß Stanton durch seine unnachgiebige Strenge lediglich dazu beitrug, das jammernde Mädchen nur noch mehr zu verwirren. „Sehen Sie denn nicht, daß Sie das Mädchen nur verunsichern?" „Mylord",
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