Verborgene Liebesglut
Fenster wie grausame Augen auf ihn herab, und der Efeu hatte sich gespenstisch um das verwitterte Gemäuer gewunden. Der alte, gotische Torbogen war in sich zusammengestürzt und verwehrte den letzten Zutritt zu dem Spielplatz seiner Kindheit.
Wilcox war von seinem Pferd abgestiegen und stand wie angewurzelt vor den schweren Mauern des Gebäudes. Hierher würde sich kein Mensch verirren, da war er ganz sicher, denn seit einigen Jahren galt dieser Ort bei der Landbevölkerung als verwunschen. Immer wieder hörten die abergläubischen Bauern nachts Stimmen aus dem alten Turm, die bis zu ihren Gehöften drangen, und mehrmals hatte man beobachtet, daß sich hier umherziehendes Gesindel versteckt hielt. Doch niemals waren diese Rumtreiber dabei ertappt worden, und auch jetzt strahlte das alte Gemäuer eine unantastbare Stille aus.
Wilcox hielt es für sinnlos, hier seine Zeit zu verschwenden. Mochte dieser Ort seiner unheimlichen Ruhe überlassen bleiben.
Er schwang sich wieder auf sein Pferd, und schon bald hatte er die bewaldete Anhöhe erreicht, von der aus man über die benachbarten Ländereien blicken konnte. Über eine Lichtung fiel sein Blick auf das in der Talsenke gelegene Morlay Hall, das von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne in blutrotes Licht getaucht wurde.
Beruhigend tätschelte Wilcox den Hals des Hengstes, als er bemerkte, daß das Tier begann aufgeregt zu schnauben. Angestrengt schaute er sich um, doch auch hier waren keine Spuren einer Kutsche zu entdecken, und er konnte sich die Unrast des Tieres nicht erklären. Er faßte die Zügel fester und blickte hinunter in das Tal. Die ersten Feldlerchen schwangen sich singend empor, doch trotz dieser lieblichen Laute spürte Wilcox eine Unruhe in sich aufsteigen. Hier war Feindesland – das fühlte er. Obwohl er keinen Beweis für ein weiteres Verbrechen der Lady Fairfax liefern konnte, wuchs in ihm die unumstößliche Gewißheit, daß sie das Rätsel um Philippes Verschwinden aufzuklären vermochte. Langsam wendete er sein Pferd und warf einen letzten, entschlossenen Blick auf das Gut.
„Wenn sie hinter diesem Verbrechen steckt", flüsterte er, „dann gnade ihr Gott!"
Daraufhin gab er seinem Pferd die Sporen. Er wußte, im Moment konnte er hier nichts ausrichten. Er würde nach Blenfield Park zurückkehren und eine neue Strategie entwickeln, um Philippe zu retten, sofern er noch lebte.
Ermüdet erreichte er schließlich das Schloß. Die Sonne war nun vollends aufgegangen, und das Leben nahm trotz der nächtlichen Aufregungen seinen üblichen Lauf.
In der Eingangshalle waren die Dienstboten damit beschäftigt, die Kaminstelle zu säubern, als Wilcox eintrat. Sofort eilte Stanton ihm entgegen. „Leider gibt es keine Neuigkeiten, Mylord. Major Livingston hat nach seiner Rückkehr gestern nacht Anweisung gegeben, beim ersten Morgengrauen die Suche fortzusetzen. Die Männer haben sich bereits aufgeteilt und sind wieder unterwegs. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sie sollten sich etwas ausruhen, Mylord."
Wilcox lächelte ihn dankbar an. „Was würde ich nur ohne Sie machen, Stanton? Aber geben Sie mir bitte sofort Bescheid, wenn es etwas Neues gibt. Ich ziehe mich kurz zurück, um meine Gedanken zu sammeln." Schnell stieg er die alte Marmortreppe empor und verschwand im Flur. Stanton schaute ihm besorgt hinterher. Da er jedoch wußte, daß er seinem Herrn nicht helfen konnte, wandte er sich ebenfalls um und eilte in den Gesindetrakt, um seinen Pflichten nachzugehen.
Am Nachmittag kamen der Lord und Major Livingston wieder zusammen. Livingston war bereits zum Lunch von der Suche zurückgekehrt. Da Stanton ihm jedoch mitgeteilt hatte, daß Seine Lordschaft sich zurückgezogen habe, wollte er Wilcox nicht stören. Er ahnte nicht, daß dieser, anstatt zu schlafen, in seinem Schreibkabinett saß, um über eine mögliche Offensive nachzudenken. Zur Teezeit erschien er jedoch im Salon.
„Gibt es noch immer keine Neuigkeiten, Thomas?" fragte er, als er den Raum betrat.
„Nein, altes Haus. Mir scheint, wir dürfen das Schicksal nicht länger warten lassen. Wir sollten bald wieder losreiten und das Gebiet gemeinsam mit den Pächtern erneut nach Spuren absuchen."
„Du hast recht. Mir ist eingefallen, daß wir unten an der Mühle noch nicht geschaut haben, ob sich dort jemand versteckt hält."
Ein plötzliches Stimmengewirr auf dem Flur unterbrach die beiden Freunde.
„Aber nein, nicht doch, Mylady. Ich habe strikte Anweisung, nur nach
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