Verborgene Lust
und sie sich in einer solchen Umgebung ineinander verliebt haben. Nie wird sie ihre magische Begegnung in der Mailänder U-Bahn vergessen. In dem Gedränge der Passagiere waren sich ihre Blicke begegnet. Sie waren durch den Mailänder Untergrund gefahren und hatten sich nur mit den Augen verständigt, sie hatten kein einziges Wort gewechselt. Dann hatten sie genau im selben Augenblick die U-Bahn verlassen, und Thomas hatte einfach ihre Hand ergriffen. Und Valentina hatte es zugelassen. Schweigend waren sie den Weg von der U-Bahn bis zu Valentinas Wohnung gelaufen, wo sie sich die ganze Nacht über leidenschaftlich geliebt hatten. Erst am nächsten Morgen hatten sie sich einander vorgestellt. Valentina hatte gedacht, es sei der beste One-Night-Stand ihres Lebens gewesen. Stattdessen war der Fremde aus der U-Bahn die Liebe ihres Lebens geworden.
Die Bahn fährt in die Station Finchley Road ein. Hier muss Valentina aussteigen. Sie steht auf und empfindet plötzlich einen starken Widerwillen. Warum tut sie sich das an? Muss sie ihren Vater wirklich jetzt treffen? Aber irgendwie treibt ihr Körper sie voran, und ihr ist klar, dass sie es bereuen wird, wenn sie das jetzt nicht durchzieht. Zuvor konnte sie sich damit herausreden, dass sie nicht wusste, wo er lebt. Nachdem sie es nun weiß, fühlt Valentina sich gezwungen zu handeln, auch wenn sie am Ende verletzt oder enttäuscht sein wird.
Draußen haben sich schwere dunkle Wolken vor den blauen Himmel geschoben. Valentina zittert und bereut, dass sie keinen Mantel mitgenommen hat. Als sie von der Finchley Road in die verwinkelten Straßen von Hampstead Village abbiegt, beginnt es kräftig zu regnen. Valentina fängt an zu laufen und hält sich schützend die Tasche über den Kopf. Sie erreicht die Straße, in der ihr Vater wohnt. Auf einmal fällt ihr ein, dass er sehr wahrscheinlich gar nicht zu Hause ist. Schließlich ist es mitten am Tag, die meisten Menschen sind bei der Arbeit. Genau wie vor zwei Tagen, als Glen ihren Plan durchkreuzt hat, steht Valentina nun wieder vor dem Haus. Sie blickt nach rechts und nach links. Erleichtert stellt sie fest, dass nirgends ein Zeichen des Möchtegern-Stalkers zu sehen ist. Ob Thomas ihn gestern Abend gewarnt hat? Vielleicht hat Glen ja auch aufgegeben? Insgeheim weiß Valentina, dass sie Glen nicht zum letzten Mal gesehen hat, doch sie verdrängt ihre Befürchtungen wegen des unangenehmen Kunstdiebs. Sie will jetzt nicht an ihn denken. Seit Monaten, seit Garelli ihren Vater erwähnt hat, hatte Valentina auf diesen Augenblick gehofft. Nun ist er da.
»Ihr Vater wäre stolz auf Sie, Valentina.« Das hatte der Polizist gesagt, und die Worte haben eine seltsam tröstliche Wirkung auf Valentina.
Obwohl der Regen sie bis auf die Unterwäsche durchnässt, geht sie nur langsam auf die Haustür zu. Zögernd betätigt sie die Klingel und hört, wie sie im Haus widerhallt. Einen Augenblick denkt Valentina, niemand wäre da. Gerade will sie durch das Tor zurück auf die Straße gehen, als plötzlich die Tür nach innen aufschwingt. Für einen Moment ist sie sprachlos. Am meisten verblüfft sie, dass er genauso aussieht wie ihr Bruder Mattia, nur mit grauen Haaren. Auch ihr Vater wirkt ebenso fassungslos wie sie. Sein Gesicht ist weiß wie die Wand, und sein Mund steht offen.
»Tina?«, krächzt er und wirkt schwach und verwirrt.
Valentina begreift, dass er sie für ihre Mutter hält. »Nein«, sagt sie, als sie endlich ihre Stimme wiederfindet. »Nein, ich bin Valentina.«
Er weiß, wer sie ist. Natürlich weiß er das. Er findet seine Fassung wieder, und die Farbe kehrt in sein Gesicht zurück. »Valentina! Natürlich! Nun, ich … Das ist aber eine Überraschung«, stottert er.
»Ja, das kann ich mir denken«, antwortet sie und weiß nicht, was sie als Nächstes sagen soll.
»Komm doch rein«, sagt er. »Du wirst ja ganz nass.«
Valentina betritt einen opulenten Vorraum, in dem es nach Sandelholz riecht. Auf dem Boden liegt ein roter Plüschteppich, und an den glänzenden weißen Wänden hängen unzählige Bilder unterschiedlicher Stilrichtungen – von frühen niederländischen Drucken bis hin zu modernen abstrakten Gemälden. Valentina denkt unwillkürlich, wie sehr Thomas diese Diele gefallen würde.
»Darf ich dir eine Tasse Tee anbieten?« Er ist nicht abweisend oder fragt sie, warum sie hier ist. Vielmehr wirkt er nach dem anfänglichen Schock jetzt recht entspannt. Das überrascht Valentina – und es ärgert sie. Konnte
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