Verborgene Lust
seit ihrer Ankunft in London zu ihr gesagt hat, und herauszufinden, ob er wieder mit ihr zusammen sein will. Sie denkt an ihr Treffen im Café der Tate und wie sicher sie sich gewesen ist, dass er sie noch liebt. Aber Thomas weigert sich, Anita aufzugeben, obwohl er noch nicht einmal mit ihr geschlafen hat. Valentina muss Thomas von ihrer Liebe überzeugen. Sie muss rücksichtslos sein und darf nicht an Anitas Gefühle denken. Das ist heute Abend ihre Aufgabe. Wenn Thomas sie anschließend noch immer zurückweist, weiß Valentina zumindest, dass sie alles in ihrer Macht Stehende versucht hat. Obwohl es in dem U-Bahn-Abteil warm und stickig ist, zittert Valentina. Bei der Vorstellung, den Rest ihres Lebens ohne Thomas zu verbringen, fröstelt ihr.
Valentina läuft am South Bank entlang und passiert erst die London Bridge, dann die Tower Bridge. Sie folgt sorgfältig Anitas Wegbeschreibung und gelangt in ein am Fluss gelegenes Wohnviertel, dessen einzelne Häuser durch Gehwege miteinander verbunden sind. Sie überquert eine kleine Brücke, die über das Wasser führt, und betritt eine schmale Straße. Hier stehen alte Lagerhäuser, die man in hochmoderne Wohnungen umgebaut hat. Sie wird über eine Videoanlage hineingelassen. Im Aufzug auf dem Weg nach oben spielen ihre Nerven verrückt, und sie wünschte, Antonella wäre bei ihr – obwohl ihre Freundin etwas gegen Thomas hat. Noch besser wäre allerdings Leonardo. Es wäre gut, etwas Unterstützung zu haben. In ihrem Mary-Quant-Minirock, den sie von ihrer Mutter geerbt hat, und ihrer kleinen schwarzen Bikerjacke mag Valentina nach außen hin zwar ziemlich cool wirken, aber innerlich ist sie noch immer das alleingelassene Mädchen: unsicher und verzweifelt darauf aus, ihren Mann zurückzubekommen.
Anitas Wohnung ist ein Traum. Eine junge Frau in einem leuchtend blauen Paillettenkleid lässt Valentina herein. Sie hat streichholzkurze rote Haare und schwarz umrandete Katzenaugen.
»Hallo, ich bin Anitas Cousine Chloe«, stellt sich das Mädchen vor. Trotz des Stimmengewirrs und der lauten Musik ist ihr eleganter Akzent kristallklar zu hören.
»Valentina.«
»Ach, ich habe schon von dir gehört. Komm herein«, sagt Chloe und bietet ihr ein Glas Champagner an.
Valentina bemüht sich, ob der prachtvollen Einrichtung von Anitas Wohnung nicht zu große Augen zu machen. Es ist ein riesiges Apartment mit Blick auf die Themse. Vor der Silhouette von London drängen sich hier die Jungen und Schönen. Valentina sieht die Tower Bridge, die sich über den dunklen Fluss spannt. Auf der anderen Uferseite funkeln die Lichter und die Energie der Stadt. An den Wänden der Wohnung hängen teuer aussehende Kunstwerke. Interessanterweise sind die meisten von ihnen Akte. Valentina erinnert sich, dass Anitas Großvater mit erotischer Kunst und Literatur gehandelt hat. Offenbar hat Anita diese Arbeiten aus seiner Sammlung geerbt. Anita steht in einem rückenlosen dunkelroten Seidenkleid zwischen ihren Gästen. Die blonden Haare fallen heute Abend in üppigen Locken über ihren nackten Rücken. Thomas ist nirgends zu sehen, und Valentinas Magen verkrampft sich vor Aufregung. Da entdeckt Anita sie und schlängelt sich an ihren Freunden vorbei zu ihr.
»Ich bin so froh, dass du gekommen bist«, schwärmt sie und küsst Valentina auf beide Wangen. Sie duftet ebenso luxuriös, wie ihre Behausung wirkt.
»Deine Wohnung ist unglaublich«, sagt Valentina und tritt etwas zurück. Sie hat jetzt schon ein schlechtes Gewissen, weil sie dieser hübschen Frau den Freund ausspannen will.
»Ich bin sehr glücklich«, gibt Anita zu. »Aber natürlich habe ich die fantastische Kunst von meinem Großvater geerbt.«
»Es ist eine ziemlich beeindruckende Sammlung«, bemerkt Valentina.
»Ja, und ich freue mich sehr, dass du gekommen bist! Ich habe nämlich etwas entdeckt, das dich sicher interessieren wird.«
Valentina sieht Anita neugierig an.
»Erinnerst du dich an meine Installation mit der O.?«
»Natürlich«, sagt Valentina.
»Nun, ich glaube, dass die Schauspielerin in dem Film eine junge Italienerin namens Maria Brzezinska ist. Das wäre logisch, denn der Film stammt von Felix Leduc. Sie tritt auch in dem alten Tanzfilm von ihm auf, den Thomas dir gegeben hat.« Anita lächelt erfreut über ihre Entdeckung. »Ist das nicht unglaublich? Ihr Name taucht nicht in den Titeln auf, aber ich habe in einer Biografie über Felix Leduc darüber gelesen. Der Autor René Mauriac kannte Leduc und seine
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