Verborgene Lust
Schloss und stellt sich vor, wie der Schall ihrer Ankunft die Räume erschüttert. Sie zittert vor Angst und versucht sich zu beruhigen. Sie trifft keine Schuld. Sie muss kein schlechtes Gewissen haben, weil sie hier eindringt. Plötzlich überkommt Maria ein ungutes Gefühl, und sie tritt zur Seite. Sie will zurück nach Paris. Sie kann Felix und seiner Frau nicht gegenübertreten. Aber gerade in dem Augenblick wird die Tür geöffnet, und als das Licht der Halle auf sie fällt, weiß Maria, dass es zu spät ist.
René und Maria warten, während Olivier mit dem alten Mann, der sie hereingelassen hat, in einem langen Flur verschwindet. Ob es in diesem riesigen Haus auch Dienstmädchen und einen Koch gibt? Das Innere des Schlosses wirkt erstaunlich bescheiden. Es gibt nur sehr wenige Möbel, und an den Wänden hängen keine Bilder. Maria und René stehen in einer riesigen Eingangshalle mit schweren Balken und Steinwänden. In der Mitte hängt ein großer Lüster aus Holz, dessen Kerzen Schatten auf die nackten Wände werfen.
»Während des Kriegs hat hier ein deutscher General gewohnt«, sagt René, als hätte er ihre Gedanken lesen. »Er hat alle Erbstücke der Leducs von den Wänden genommen und nach Deutschland geschafft. Das Schloss befindet sich seit Generationen im Besitz der Familie. Sie haben viel verloren.«
»Warum gehört das Schloss Felix und nicht Olivier? Schließlich ist er der Ältere.«
René kratzt sich am Kopf und denkt einen Augenblick nach. »Ich glaube, weil Olivier das Haus in Paris hat.«
»Es gibt noch ein Haus in Paris?«
René nickt und sieht sie neugierig an. »Ich wusste nicht, dass du so wenig über die Leducs weißt«, bemerkt er.
Marias Wangen brennen vor Scham. In Renés Augen ist sie ein Narr. »Du musst mich für sehr dumm halten«, murmelt sie.
René lächelt sie freundlich an, wobei seine grauen Augen hinter den dicken Brillengläsern wie Bleistiftspitzen wirken. »Überhaupt nicht, meine Liebe.« Er tätschelt ihren Arm. »Ich glaube, wenn du erst gehört hast, was Felix zu sagen hat, wirst du begreifen, dass die ganze Aufregung unnötig war.«
Sie krümmt sich zusammen. »Ich glaube kaum, dass ich mich unnötig aufrege, wenn der Mann, den ich liebe, mich belogen hat. Wenn ich herausfinde, dass er verheiratet ist.«
»Lass es Felix erklären …«
Das sagen René und Olivier die ganze Zeit. »Lass es Felix erklären.« Sie hat genug vom Warten in der zugigen Eingangshalle. Warum sollte sie Felix Zeit geben, sich noch mehr Lügen auszudenken? Sie will ihn jetzt sehen. Plötzlich ist es Maria egal, ob Felix’ Ehefrau von ihr erfährt. Es ist ohnehin auch für sie besser, wenn sie Bescheid weiß. Auf einmal denkt Maria, dass Felix genauso erfunden ist wie die Figuren in seinen Filmen. Sie will nicht länger warten. Sie will nicht länger leiden.
»Maria, warte! Wohin gehst du?«, ruft René hinter ihr her, als sie den Flur hinunterstürmt, in dem Olivier verschwunden ist. »Wir sollen hier warten!«
Maria schüttelt den Kopf, ihre Kapuze rutscht herunter, und ihre dunklen Locken fallen über ihre Schultern. Ihre Wut von vorhin ist wieder da und treibt sie den Korridor entlang. Maria läuft an einigen Türen vorbei, bis sie unter einer Schwelle Licht sieht und dahinter Stimmen hört. Ohne zu zögern, dreht sie den Griff und tritt ein.
Vor ihr steht ihr Geliebter. Noch nie war er so elegant gekleidet. Er trägt Anzughosen, ein gestärktes weißes Hemd mit einer schwarzen Seidenfliege, goldene Manschettenknöpfe und eine schwarze Weste. Seine widerspenstigen Haare sind mit Pomade gezähmt und glatt zurückgekämmt, sodass seine breiten, glattrasierten Wangen deutlich hervortreten. Es überrascht Maria, wie dunkelrot seine Lippen sind. So hatte sie sie nicht in Erinnerung.
»Maria!«, ruft Felix entsetzt, und sein Gesichtsausdruck verstärkt ihre Wut. Er will sie nicht hier haben. Sie starrt ihm direkt in die Augen und hat Angst, den Blick woanders hin zu richten. Aus dem Augenwinkel nimmt sie hinter ihm auf dem Sofa eine Gestalt wahr. »Mein Gott, Maria, was machst du, was platzt du hier …? Olivier hat gesagt, du würdest in der Eingangshalle warten.«
Ohne nachzudenken tritt Maria vor und gibt Felix eine kräftige Ohrfeige. Das Geräusch schallt durch den großen Raum. Es folgt schockierte Stille. Dann stürzt René hinter Maria in den Salon.
Felix hält sich die Wange und starrt Maria an. Das Entsetzen ist jetzt einer gleichgültigen Maske gewichen. Dass er nicht
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