Verborgene Lust
auf ihren Schlag reagiert, verletzt Maria noch mehr. Sie konzentriert sich auf den roten Abdruck ihrer Hand auf seiner Wange, dann nimmt sie langsam ihre Umgebung wahr. Hier hat man an den Wänden bereits einige Gemälde ersetzt. Obwohl die Nacht warm ist, knistert ein Feuer in einem großen Kamin, die Fenster sind geschlossen, die dunkelroten Samtvorhänge sind zugezogen. Es herrscht drückende Hitze. Maria sieht Olivier, der in einem Sessel neben dem Kamin thront und sie kühl betrachtet. Dahinter auf dem Sofa sitzt jemand, bei dem es sich um niemand anders als seine Frau handeln kann. Sie sieht Maria an, und die Blicke der beiden Frauen treffen sich. Anstatt ihr feindselig zu begegnen, wirkt die andere vielmehr schüchtern. Sie muss einmal sehr attraktiv gewesen sein, doch sie ist mindestens zwanzig Jahre älter als Maria, und jetzt wirkt ihr Gesicht müde und verhärmt, ihre Augen traurig.
»Ach, Felix«, sagt sie. »Das muss sie sein.«
Das überrascht Maria. Die Frau redet, als wüsste sie von ihr. Sie ist ganz sicher nicht verrückt oder krank. Mit brennendem Herzen wendet Maria sich an Felix:
»Warum hast du mich belogen?«, schreit sie.
»Aber, Maria, ich habe dich nicht belogen«, erwidert Felix wahrheitsgemäß. »Ich habe dir nur nie von meiner Frau erzählt.«
Meiner Frau. Die Worte treffen sie wie Messerstiche. Nie wird er Maria so bezeichnen. »Wie konntest du mit mir zusammen sein, wenn du verheiratet bist?«, fragt sie.
»Bitte, beruhige dich«, stößt Felix hervor. »Setz dich und trink etwas, dann erkläre ich es dir.«
Aber Maria bleibt in ihrem roten Cape stehen, wo sie ist.
»Ihr solltet draußen warten«, wendet sich Felix an René.
»Sie ist einfach weggelaufen. Ich konnte sie nicht aufhalten.«
»Und warum zum Teufel hast du sie überhaupt mitten in der Nacht hierhergebracht? Und warum hast du ihn nicht aufgehalten, Olivier?«, fragt Felix nun seinen Bruder.
»Ihretwegen. Sie war wild entschlossen, dich zu sehen«, antwortet er.
Felix wendet seine Aufmerksamkeit wieder Maria zu. »Herrgott, setz dich hin!«, befiehlt er, und zu ihrer eigenen Überraschung lässt sie sich auf einen Sessel auf der anderen Seite des Feuers fallen.
Felix geht zum Sideboard, schenkt aus einer Karaffe ein großes Glas Rotwein ein und reicht es Maria, wobei er es geschickt vermeidet, sie anzusehen. Sie möchte seine Hand berühren, seine Wärme und seine Haut spüren, aber sie hält sich zurück. Niemand sagt ein Wort. Nur das Knistern und Flackern des Feuers ist zu hören. Die Spannung ist kaum zu ertragen, aber nach ihrem Ausbruch fühlt sich Maria völlig erschöpft. Die ganze Szene kommt ihr unwirklich vor. Befindet sie sich tatsächlich in diesem Schloss und steht ihrem Geliebten und seiner Ehefrau gegenüber? Noch seltsamer kommt es Maria vor, dass die andere Frau so ruhig ist. Offenbar weiß sie von Maria, aber es scheint ihr nichts auszumachen.
»Felix«, sagt die andere jetzt, »ich denke, du solltest dem Mädchen alles erzählen.«
»Aber Mathilde, wir müssen die Zahl der Leute, die Bescheid wissen, auf den engsten Kreis beschränken.«
»Ich glaube, sie gehört dazu, Felix.«
Die beiden sprechen äußerst kühl miteinander. Maria fällt auf, dass Felix sich nicht neben seine Frau setzt, sondern stehenbleibt.
»Warum hast du mir nicht vertraut?«, wendet er sich wieder an Maria, und sie hört, dass er aufgebracht ist. Seine gleichgültige Fassade bröckelt.
»Das habe ich. Aber dann habe ich herausgefunden, dass du verheiratet bist.« Gegen ihren Willen bricht ihre Stimme. »Felix, wie konntest du nur?«
Vor all diesen Fremden fühlt sie sich befangen, doch keiner verlässt den Raum. Vielleicht ist es gut so. Vielleicht würde sie schwach werden und sich in Felix’ Arme werfen, wenn sie allein wären.
»Weil ich dachte, du würdest es verstehen … Ich hoffe noch immer …« Er zögert und befeuchtet seine Lippen.
»Ist diese Dame«, Maria kann die Frau auf dem Sofa kaum ansehen, »deine Gattin?«, flüstert sie.
»Ja, das ist Mathilde Leduc«, erwidert Felix und weicht erneut ihrem Blick aus. »Sie ist meine Frau, aber nur auf dem Papier. Wir führen keine Ehe mehr.«
»Wenn das zutrifft, warum lebt ihr dann zusammen in diesem Haus?«
»Wir leben nicht zusammen. Ich wohne in London, wie du dich vielleicht erinnerst?«
»Aber sie wohnt in deinem Haus«, beharrt Maria. »Wenn ihr keine Ehe mehr führt, warum seid ihr dann nicht geschieden?«
»Weil sie meinen Schutz braucht.«
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