Verborgene Lust
weiten Fläche. Wie gut es tut, ihre Seele freizulassen! Ihr Körper gehorcht ihren Gedanken, und sie springt hoch über die Wiese. Hier gibt es nichts, das sie traurig macht. Ihre Freude macht sie frei. Doch jetzt tanzt sie am Rand der Weide, an die sich ein dunkler Wald anschließt. Als würden die Bäume auf sie zukriechen, kommt der Wald immer näher. Die Bäume werfen Schatten auf den goldenen Rasen. Maria blickt zwischen die hohen Baumstämme und sieht ein Gesicht: einen hellen mondähnlichen Kreis – es ist Mathilde Leducs Gesicht. Aus ihren Augen spricht die große Liebe zu ihrem Mann, der sie verachtet. Es ist schmerzhaft, in ihr Gesicht zu sehen. Maria wendet sich ab, hört jedoch noch, was Mathilde sagt: »Liebe und Hass liegen dicht beieinander.«
Mit klopfendem Herzen setzt Maria sich im Bett auf. Sie blickt aus dem offenen Fenster und sieht, dass es noch immer Nacht ist. Der Morgen lässt noch eine Weile auf sich warten. Sie kann nur kurz geschlafen haben. Maria zieht die Decke bis zum Kinn hoch und wünscht sich jetzt, sie hätte Felix vorhin nicht abgewiesen. Sie wünschte, er wäre hier bei ihr, hielte sie und beruhigte sie. Warum können sie nicht einfach weitermachen wie bisher? Er hat gesagt, dass er sich in ein paar Jahren von Mathilde scheiden lassen könnte. Er hat gesagt, dass er sie, Maria, liebt.
Maria schlägt die Decke zurück und steigt aus dem Bett. Noch immer trägt sie das Abendkleid. Sie wird zu ihm gehen. Das ist alles, was sie weiß. Sie braucht ihn. Ihr Körper sehnt sich nach der Berührung ihres Geliebten.
Sie öffnet die Zimmertür und blickt hinaus in den Flur. Sie weiß nicht, in welchem Zimmer Felix sein könnte. Sie läuft auf Zehenspitzen über den Korridor und öffnet dabei jede Tür. Die meisten Zimmer sind leer. In einem sieht sie Renés Brille auf dem Nachttisch liegen, und aus dem Hügel unter der Decke dringt Schnarchen. Maria schließt die Tür. Sie muss Felix finden. Sie möchte in seinen Armen liegen, mit ihrem Geliebten verschmelzen und ihn in sich spüren. Ohne ihn fühlt sie sich leer. Nur dadurch wird sie sich besser fühlen.
Sie stößt die letzte Tür auf der Etage auf. Zunächst sieht sie ein offenes Fenster, silberblaues Mondlicht ergießt sich in den Raum. Vor ihr steht ein großes Himmelbett. Sie hat ihn gefunden, doch was sie sieht, lässt sie sprachlos vor Entsetzen erstarren. Dort liegt nicht nur Felix, sondern auch Mathilde, seine angeblich so verhasste Ehefrau. Die beiden schlafen fest und liegen eng umschlungen in einem Bett. Sie sehen so unschuldig, so vollkommen aus – es zerreißt Maria das Herz. Sie hört erneut Mathildes Worte aus ihrem Traum: »Liebe und Hass liegen dicht beieinander.«
Maria dreht sich um, rennt aus dem Zimmer und den Flur hinunter. Sie kann nicht bleiben. Das erträgt sie nicht. Wenn sie noch eine Minute länger in diesem schrecklichen Schloss verbringen muss, bricht ihr das Herz, und sie stirbt. Maria stürzt in Renés Zimmer und rüttelt den kleinen Mann wach.
»René! Du musst mich zurück nach Paris bringen. Sofort! « Sie schluchzt fast hysterisch. Das Bild ihres Geliebten in völliger Harmonie im Bett mit seiner Frau brennt sich in ihren Kopf ein.
Valentina
Thomas ist ein Außerirdischer, ein Besucher aus einer anderen Galaxie. Er trägt einen silbernen Raumfahrtanzug, sein Kopf ist durch einen Helm vor Küssen geschützt. Valentina kann noch nicht einmal seine Augen erkennen, sie sieht nur ihr Spiegelbild auf seinem Visier. Auf dem Balkon der Wohnung nimmt er ihre Hand und deutet hinauf in den Nachthimmel. Sie muss springen. Sie darf keine Angst haben zu fallen und auf der Straße dort unten zu zerschmettern. Sie muss Thomas vertrauen. Es ist leichter, als sie gedacht hat. Sie muss nur ihren Kopf ausschalten und auf ihr Herz hören. Jetzt springen sie zusammen in den Londoner Nachthimmel. Einen Augenblick fallen sie und streifen mit den Fußspitzen einen der alten Türme der Tower Bridge. Doch Valentina vertraut Thomas, und tatsächlich hebt sie ein warmer Luftschub in den Himmel, und sie treiben nach links über das riesige Swiss-Re-Gebäude mit Spitznamen »Gherkin« hinweg, das tatsächlich wie eine Gurke aussieht. Schwerelos treiben sie dahin, entfernen sich immer weiter und fliegen in ein anderes Universum. Valentina betrachtet die Sterne. Auf der astronomischen Landkarte am Himmel kann sie ganz klar das Sternbild ihrer Liebe erkennen. Thomas und sie sind ein winziger Fleck im unendlichen Universum. All
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