Verborgene Lust
Tanz abgebrochen hatte. Sie war tränenüberströmt von der Bühne gestürzt und hatte es dem armen Christopher überlassen, den letzten Akt allein zu beenden. Sie hatte nicht nur sich selbst gedemütigt, sondern Schande über die ganze Kompanie gebracht. Sie hatte alle im Stich gelassen. Nie wird sie Joans schockiertes Gesicht vergessen. Maria will sich gar nicht erst vorstellen, wie wütend Lempert auf sie ist – nicht darüber, dass sie gefallen, sondern dass sie weggelaufen ist. Eine echte Tänzerin wäre einfach wieder aufgestanden und hätte weitergemacht. Sie waren schließlich Studenten. Es war die Premiere. Wenn jemandem ein Missgeschick passiert, bedeutete das kein Drama. Aber für Maria war es das. Sie hatte das Gefühl gehabt unterzugehen. Es war nicht nur wegen des Tanzes, sondern auch wegen ihrer aufgewühlten Gefühle: der Freude über ihre Liebe zu Felix und der Verzweiflung über seine bevorstehende Reise nach Frankreich. Sie hatte es nicht ertragen können, jemandem zu begegnen, nicht einmal ihrer geliebten Jacqueline, die schockiert im Publikum gesessen hatte. So war sie aus dem Theater geflohen, noch bevor der letzte Vorhang gefallen war, war an der Themse entlanggerannt und wollte sich in die trüben Tiefen stürzen. An der Waterloo Station holte Felix sie ein. Er setzte den Koffer mit seiner Kamera ab, und Maria fiel verzweifelt schluchzend in seine Arme.
»Sch«, sagte er immer wieder und strich ihr übers Haar.
Schließlich beruhigte sie sich. Felix löste seine Umarmung und reichte ihr ein Taschentuch. Sie wischte sich die Tränen ab, aber sobald sie an den grässlichen Moment dachte, in dem sie gespürt hatte, dass sie fiel, in dem sie mit einem Knall auf der Bühne gelandet war, vergrub sie das Gesicht in den Fingern.
»Komm schon«, sagte Felix zärtlich und zog die Hände von ihrem Gesicht. »Das ist nicht das Ende der Welt.«
Maria schüttelte bekümmert den Kopf.
»Warum bin ich weggelaufen?«, schluchzte sie. »Jetzt kann ich nie mehr zurück.«
»Natürlich kannst du das«, entgegnete Felix. »Du bist eine hervorragende Tänzerin. Du musst!«
»Ich kann ihnen nicht in die Augen sehen«, widersprach Maria. »Ich habe versagt.«
»Mein Liebling, es gibt Momente im Leben, da müssen wir versagen«, versuchte Felix zu erklären, »damit wir weiterkämpfen und am Ende siegen.«
Aber seine Worte trösteten Maria nicht. Sie konnte nur daran denken, dass er bald nach Frankreich abreisen würde und sie allein in London zurückbliebe. Sie konnte Jacqueline nicht mehr unter die Augen treten. Zumindest die nächsten Tage nicht. Sie würde die Enttäuschung ihrer Mentorin nicht ertragen. Maria glaubte, wenn sie wirklich Ehrgeiz besäße, eine brennende Leidenschaft zu tanzen, dann würde sie zurückgehen, sich ihrem Versagen stellen und hart an ihrer Rehabilitation arbeiten. Aber das wollte sie nicht. Sie umklammerte Felix’ Taschentuch, das nass von ihren Tränen war. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie nicht in London war, um ihren Traum zu leben, sondern den ihrer Mutter. Belle hoffte, dass ihre Tochter eine Tänzerin wurde. Maria wünschte, sie hätte Venedig nie verlassen. Hätte sie das allerdings nicht getan, wäre sie auch nicht Felix begegnet.
»Nimm mich mit nach Frankreich«, flüsterte Maria.
Felix schien fassungslos. »Liebling, es tut mir leid, aber das geht nicht.«
Sie ergriff seinen Arm. »Bitte, nimm mich mit.«
»Das kann ich nicht«, sagte er ungelenk. »Ich habe dort Geschäfte zu erledigen.«
»Ich weiß«, erwiderte sie, »und ich werde dich nicht stören. Versprochen. Ich will nur ein oder zwei Wochen mit dir an einen anderen Ort gehen. Ich kann es nicht ertragen, ohne dich zu sein.«
»Aber was ist mit deinem Tanz?«
»Felix, ich kann nicht zurück.«
Er schüttelte den Kopf. »Maria, Liebling, wenn du mit mir kämst, müsste ich dich über Nacht in Paris allein lassen. Das will ich nicht.«
»Das stört mich nicht. Ich schlafe einfach, ruhe mich aus und warte auf dich.« Sie zitterte in ihrem spärlichen Tanzkostüm, und er zog sie an sich. Sie achteten nicht auf die neugierigen Blicke der Passanten. Sie erregten an der Waterloo Station einige Aufmerksamkeit: Maria noch immer in ihrem Kostüm der Psyche, ein weiß geschminktes ätherisches Kind, in den Armen eines finster blickenden dunkelhaarigen Mannes.
»Ich liebe dich, Felix«, flüsterte sie und spürte, wie er erzitterte. Sie wusste, wie viel ihm ihre Worte trotz seines Alters und seiner
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