Verborgene Lust
fest, dass etwas Hartes sie daran hindert. Als sie versucht, die Arme zu lösen, passiert das Gleiche. Valentina ertastet mit den Händen die Ränder dessen, worin sie eingesperrt ist. Es ist eine harte Kiste, die mit roter Seide ausgeschlagen ist. Außerdem gibt es Gurte, an denen Schnallen befestigt sind. Valentina schläft noch immer. Jetzt sieht sie sich von oben: eine Frau, die in einem Koffer gefangen ist. Warum kann sie nicht aussteigen? Sie hört Schritte auf sich zukommen und sieht als Nächstes ein Paar Schuhe neben dem Koffer stehen: Sie sind aus schwarzem Leder, teuer, aber bereits etwas abgestoßen, die Schnürsenkel sitzen lose. Wem gehören diese Schuhe? Sie blickt auf, kann aber nur ein Paar Beine in Nadelstreifenhosen sehen, die im Londoner Nebel verschwinden. Wer ist das? Thomas? Francesco? Valentina weiß, was als Nächstes geschehen wird, und ihre Kehle ist vor Aufregung wie zugeschnürt. Sie kann nicht schreien. Plötzlich wird der Deckel zugeschlagen, und es herrscht völlige Finsternis. Valentina befindet sich in der Gewalt eines Mannes – ihre größte Angst.
Valentina erwacht im Stehen. Der leere Koffer liegt neben ihr. Sie ist zurück in dem U-Bahn-Zug und bemüht sich, das Gleichgewicht zu behalten, während der Zug durch den Tunnel rast. Sie ist noch immer allein. Oder nicht? In ihrem Rücken spürt sie ein vertrautes Kribbeln – das Gefühl, dass jemand sie beobachtet. Sie hält den Atem an und hat Angst, sich umzudrehen und nachzusehen, wer es ist. Jetzt spürt sie seinen Atem in ihrem Nacken. Er steht hinter ihr, legt die Arme um ihre Taille und beugt sich hinab, um sie auf den Hals zu küssen. Bei dem Gefühl seiner Lippen auf ihrer zarten Haut erschaudert sie. Er küsst sie ausgiebig. Sie spürt, wie sich die Haut in ihrem Nacken zusammenzieht, dann folgt ein schmerzhaftes Brennen. Etwas Scharfes schneidet in ihre Haut. Jetzt wehrt Valentina sich, aber er hält sie noch stärker fest. Er klammert sich an ihren Nacken und saugt die Liebe aus ihr heraus. Die Lichter im Zug flackern, und für einen Augenblick sieht Valentina sich selbst und ihren Angreifer in der Scheibe. Schließlich hebt er den Kopf und starrt sie über die Scheibe an. Angst ergreift sie. Dort steht Glen. An seinen Lippen klebt Valentinas Blut. Seine Augen funkeln.
»Ich nehme dich ihm weg«, hört sie ihn leise flüstern.
»Valentina! Wach auf!«
Valentina setzt sich keuchend im Bett auf. Das Schlafzimmer ist beinahe dunkel und tief verschattet.
Antonella beugt sich über sie und schüttelt sie. »Ist alles okay?«
Langsam kommt Valentina zu sich, nickt stumm und blickt sich mit großen Augen im Zimmer um. Es war nur ein Traum. Sie ist in Sicherheit.
»Du hast geschrien«, berichtet Antonella. »Du musst einen wirklich schlimmen Albtraum gehabt haben.«
Valentina nickt und spürt noch immer einen Angstschauer, als sie an den Vampir Glen denkt.
»Den hatte ich.«
»Wovon handelte er?«
»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, lügt sie. »Es war einfach nur gruselig.« Sie will Antonella nichts von Glen erzählen. Sie weiß, wie leicht sich ihre Freundin ängstigt. Valentina lehnt sich ans Kopfende des Bettes und blickt aus dem Schlafzimmerfenster. Die Vorhänge sind nicht geschlossen. In der bläulichen Dämmerung brennen bereits die Straßenlaternen. »Wie spät ist es?«
»Fünf vor sechs. Kannst du dir das vorstellen? Wir haben den ganzen Tag verschlafen.«
Noch eineinhalb Stunden bis zur Eröffnung – gerade genügend Zeit, um sich fertig zu machen.
»Ich gehe zuerst ins Bad. Du machst uns einen Tee«, ordnet Antonella an und stürmt aus dem Zimmer.
Valentina bleibt noch einen Augenblick sitzen und wartet, dass sich ihr Herzschlag beruhigt. Die seltsamen Bilder aus dem Traum wühlen sie noch immer auf. Heute Abend wird sie Thomas und Anita begegnen. Es könnte ihre letzte Chance sein, ihre Liebe zurückzugewinnen. Sie realisiert, dass ihr das wichtiger ist als alles andere, wichtiger als ihr Debüt als erotische Fotografin in einer der angesagtesten Galerien Londons. Wenn sie Thomas heute Abend mit Anita nach Hause gehen lässt, hat sie ihn für immer verloren. Davon ist Valentina überzeugt.
Maria
Er hatte sie mit nach Paris genommen. Das ist mehr als alles, was sie sich je erträumt hat. Es ist ein Lichtblick nach der düsteren Erfahrung, als Tänzerin versagt zu haben. Nachdem Maria während der Aufführung von Pandora gestürzt war, hatte sie alles noch viel schlimmer gemacht, indem sie den
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