Verborgene Macht
künftigen Anführer, Künstler und Wissenschaftler zu nähren — Individuen, die von größter Bedeutung für die Menschheit sind. Und als Gegenleistung sind sie die Nutznießer einer konkurrenzlosen Ausbildung von Weltklasse, die ihnen beste Möglichkeiten für ihr eigenes Leben bietet.
Cassie lachte freudlos auf. »Von größter Bedeutung für die Menschheit...?«, begann sie, aber Isabella beugte sich vor und hob die Hand. »Aber warum tun sie es ohne unsere Einwilligung? Und warum muss jedes Mitglied der Auserwählten sich speziell von seinem Mitbewohner nähren?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn, die eine Mischung aus Neugier und Sorge verriet. Sir Alric legte die Fingerspitzen aneinander und begann vorsichtig von Neuem. »Im Laufe der Jahre haben wir die Erfahrung gemacht, dass Geheimhaltung die beste Politik ist. Nicht jeder wäre bereit, die Bedürfnisse der Auserwählten zu akzeptieren, wie Sie es gewesen sind, Isabella. Wenn die Welt die Wahrheit über uns wüsste: über unsere Stärken und Fähigkeiten und über das, was wir tun, um sie zu erhalten - was glauben Sie, wie lange es dauern würde, bevor wir als Ungeheuer gebrandmarkt wären? Gefürchtet und verfolgt, wo immer wir erschienen? Nein. Geheimhaltung bedeutet Sicherheit, und aus diesem Grund entscheiden die meisten Mitglieder der Auserwählten sich dafür, ihre Mitbewohner nicht einzuweihen in das, was mit ihnen geschieht.«
Isabella nickte.
»Was die Frage betrifft, warum wir darauf bestehen dass jedes Mitglied der Auserwählten sich ausschließlich von seinem Mitbewohner nährt«, fuhr Sir Alric fort. »Wenn es den Auserwählten gestattet wäre, sich von beliebigen Personen zu nähren, bestünde das Risiko, dass ein Schüler möglicherweise mehr als einem der Auserwählten als Lebensquelle dient und dadurch zu viel von seiner eigenen Lebensenergie verliert. Wenn das geschehen würde, könnte es gefährlich für ihn werden. Aber wenn jeder Auserwählte sich nur von seinem Mitbewohner nährt, besteht diese Gefahr nicht. Es ist lediglich eine Vorsichtsmaßnahme, ein weiterer Beweis dafür, wie ernst wir ihre Sicherheit nehmen.«
Cassie schüttelte den Kopf.
»Gibt es ein Problem, Cassandra?«
»Bei Ihnen hört sich das so einfach an. Aber was ist mit Keiko und Alice? Was ist mit dem, was Jess zugestoßen ist, hm? Was ist mit den Auserwählten, die beschließen, die Regeln ihres sogenannten Systems nicht zu befolgen?« Das Wort System spie sie beinahe aus.
»In jeder Gesellschaft gibt es Individuen, die vom Pfad des Gesetzes abkommen. Wenn das geschieht, werden sie bestraft.«
Cassie lachte ungläubig auf. Sie hatte noch Jakes wütende Worte aus dem Computerkurs in den Ohren. »Also wurde Katerina dafür bestraft, dass sie Jakes Schwester getötet hat, indem man sie von der Schule verwiesen hat? Nennen Sie mich unvernünftig, aber ich finde, in diesem Fall wird die Strafe dem Verbrechen nicht gerecht.«
Sir Alric stand auf und seine Miene verhärtete sich. Cassie bekam es plötzlich mit der Angst zu tun.
»Ich verstehe Ihre Gefühle, Cassandra, aber wir sind nicht hier, um über Katerina Svensson zu sprechen. Über ihre Strafe wurde von Kräften entschieden, die sich Ihrer Kenntnis und meiner Kontrolle entziehen. Jetzt ist es wichtiger, dass Sie die richtige Ausbildung erhalten, um sich zu nähren, und dass sie überwacht werden, um sicherzustellen, dass sie nicht die gleichen Fehler machen, wie Katerina sie gemacht hat.«
Sir Alric klang endgültig. Die Fragestunde war zu Ende.
»Ich habe gleich einen weiteren Termin, daher sollten wir anfangen. Isabella, wenn Sie bitte hier herüberkommen würden.« Sir Alric deutete vor sich. »Und Sie hierher.«
Cassie stellte sich wie geheißen vor Isabella. Ihre Handflächen waren verschwitzt. Isabella kicherte nervös und schürzte die Lippen.
Sir Alric zog eine perfekte Augenbraue hoch. »Was tun Sie, Miss Caruso?«
Isabella blickte beklommen zwischen Cassie und Sir Alric hin und her. »Cassie hat mir erzählt, dass es so aussah wie ein Kuss, als Keiko sich von Alice nährte. Daher dachte ich ...«
»Keikos Methode entsprach nicht unseren Empfehlungen für diesen Prozess. Ihre Neigungen waren grausam, und ihre Entscheidung, auf diese Art und Weise Nahrung aufzunehmen, spiegelte lediglich ihre Neigungen wider. Direkte Mund-zu-Mund-Aufnahme ist mächtiger, aber auch schädlicher.«
»Puh! Endlich mal eine gute Neuigkeit!« Cassie brachte ein Lächeln zustande. »Nichts für ungut, Isabella,
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