Verborgene Muster
Bewusstlosigkeit, Panik, verzweifeltes Schnappen nach Luft, und höchstwahrscheinlich stand der
Mörder hinter einem, sodass die Angst kein Gesicht hatte. Man starb, ohne zu wissen durch wen und
warum. Rebus hatte beim SAS verschiedene Methoden des Tötens gelernt. Er wusste, wie es sich
anfühlte, wenn sich die Garrotte um den eigenen Hals zusammenzog, während man gleichzeitig darauf
vertraute, dass der Gegenspieler nicht plötzlich durchdrehte. Eine furchtbare Art zu
sterben.
Edinburgh schlief weiter, so wie es bereits seit Hunderten von Jahren schlief. Zwar gab es
Geister in den kopfsteingepflasterten Gassen und auf den Wendeltreppen der Mietskasernen in der
Old Town, aber das waren aufgeklärte Geister, die sich klar ausdrücken konnten und ehrerbietig
waren. Die würden einen nicht mit einem Stück Schnur in Händen aus der Dunkelheit anspringen.
Rebus blieb stehen und schaute sich um. Außerdem war es bereits Morgen und jeder gottesfürchtige
Geist würde mittlerweile wohlig zugedeckt im Bett liegen, so wie er, John Rebus, ein Mensch aus
Fleisch und Blut, es auch bald tun würde.
Kurz vor seiner Wohnung kam er an einem kleinen Lebensmittelladen vorbei, vor dem sich Kästen mit
Milch und mit Frühstücksbrötchen stapelten. Der Besitzer hatte sich Rebus gegenüber mal über
gelegentliche geringfügige Diebstähle beklagt, wollte aber keine offizielle Beschwerde
einreichen. Der Laden war genauso ausgestorben wie die Straße, deren Stille nur durch das ferne
Rumpeln eines Taxis auf den Pflastersteinen und den unermüdlichen Morgenchor gestört wurde. Rebus
sah prüfend zu den vielen mit Vorhängen zugezogenen Fenstern. Dann grapschte er rasch sechs
Brötchen aus einer Lage, stopfte sie in seine Taschen und ging etwas schneller als normal weiter.
Kurz darauf blieb er zögernd stehen, dann ging er auf Zehenspitzen zum Laden zurück, der
Verbrecher, der an den Ort seines Verbrechens zurückkehrt wie der Hund zu seinem Erbrochenen.
Rebus hatte zwar noch nie gesehen, dass ein Hund so etwas tat, aber er konnte sich hierbei auf
die Autorität des heiligen Petrus berufen.
Er schaute sich noch einmal um, nahm ein Pint Milch aus einem Kasten und machte sich leise vor
sich hin pfeifend davon.
Nichts auf der Welt schmeckte so gut zum Frühstück wie gestohlene Brötchen mit Butter und
Marmelade und dazu ein Becher Milchkaffee. Nichts tat so gut wie eine lässliche Sünde.
Schnuppernd betrat er das Treppenhaus seines Mietshauses und nahm den schwachen Katzengeruch
wahr, ein ständiges Ärgernis. Er hielt die Luft an, bis er die zwei Treppen hinaufgestiegen war,
und fummelte in seiner Jackentasche unter den zerdrückten Brötchen nach seinem Schlüssel.
Die Wohnung fühlte sich feucht an und roch auch feucht. Er sah nach dem Boiler und, wie zu
erwarten, war die Zündflamme mal wieder ausgegangen. Fluchend zündete er sie wieder an, stellte
den Thermostat ganz hoch und ging ins Wohnzimmer.
Auf dem Bücherregal, in der Schrankwand und auf dem Kaminsims waren immer noch freie Stellen, wo
einst Sachen von Rhona gestanden hatten, doch in vielen dieser Lücken hatte er mittlerweile seine
eigenen Spuren hinterlassen. Da lagen Rechnungen, unbeantwortete Briefe, alte Aufreißer von Dosen
mit billigem Bier und das eine oder andere ungelesene Buch. Rebus sammelte ungelesene Bücher. Es
gab einmal eine Zeit, da hatte er tatsächlich die Bücher gelesen, die er kaufte, aber heutzutage
schien er viel zu wenig Zeit zu haben. Außerdem war er jetzt kritischer als damals, in jenen
längst vergangenen Tagen, wo er ein Buch bis zum bitteren Ende las, ganz gleich ob es ihm gefiel
oder nicht. Heutzutage würde er einem Buch, das ihm nicht gefiel, kaum mehr als zehn Seiten lang
seine Konzentration schenken.
Das betraf die Bücher, die im Wohnzimmer herumlagen. Die Bücher, die er tatsächlich las, landeten
unweigerlich im Schlafzimmer, wo sie in geordneten Reihen wie Patienten im Wartezimmer eines
Arztes auf dem Fußboden lagen. Irgendwann würde er mal Urlaub machen, sich ein Cottage in den
Highlands oder an der Küste von Fife mieten und all diese Bücher mitnehmen, die darauf warteten,
gelesen oder wieder gelesen zu werden, all dieses Wissen, das ihm gehören könnte, wenn er nur
einen Buchdeckel aufschlug. Sein Lieblingsbuch, ein Buch, zu dem er mindestens einmal im Jahr
griff, war Schuld und Sühne. Wenn doch nur, dachte er, heutige Mörder auch öfter mal ein
schlechtes Gewissen zeigen würden. Aber
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