Verborgene Muster
scheidet das schon mal aus. Wie kommt er dann an deine Adresse?«
»Er oder sie«, sagte Rebus und steckte die Zettel wieder in die Tasche. »Woher soll ich das denn
wissen?« Er zündete zwei Zigaretten an und reichte eine Morton, nachdem er vorher den Filter
abgebrochen hatte.
»Danke«, sagte Morton und steckte die kurze Zigarette in einen Mundwinkel. Der Regen ließ nach.
»Sintflutartige Regenfalle in Glasgow«, sagte er, ohne eine Antwort zu erwarten.
Beide Männer hatten verquollene Augen von zu wenig Schlaf, aber der Fall hatte Besitz von ihnen
ergriffen, also fuhren sie, noch leicht benommen, mitten in das düstere Zentrum der Ermittlungen.
Auf dem unbebauten Grundstück hatte man nahe der Stelle, wo die Leiche des Mädchens gefunden
worden war, einen Bürocontainer aufgestellt. Von dort sollten die Von-Haus-zu-Haus-Befragungen
koordiniert werden. Freunde und Familienangehörige sollten ebenfalls befragt werden. Rebus
fürchtete, dass der Tag ziemlich öde werden würde.
»Was mir Kopfzerbrechen macht«, hatte Morton gesagt, »ist folgendes: wenn die beiden Morde
miteinander in Verbindung stehen, haben wir es mit jemandem zu tun, der vermutlich keins der
beiden Mädchen kannte. Dann wird das eine Sauarbeit.«
Rebus hatte genickt. Allerdings bestand immer noch die Chance, dass entweder beide Mädchen ihren
Mörder gekannt hatten oder dass der Mörder jemand in einer Vertrauensposition war. Denn sonst
hätten sich die Mädchen, die fast zwölf Jahre alt und nicht dumm waren, doch bestimmt gewehrt,
als sie entführt wurden. Es hatte sich aber niemand gemeldet, der so etwas beobachtet hatte. Das
war verdammt merkwürdig.
Es hatte aufgehört zu regnen, als sie das winzige Büro betraten. Der für die Außenermittlungen
zuständige Inspector gab ihnen eine Liste mit Namen und Adressen. Rebus war froh, vom
Polizeipräsidium fort zu sein, fort von Anderson und dessen Manie fürs Aktenstudium. Hier fand
die eigentliche Arbeit statt, hier wurden Kontakte hergestellt, und hier konnte eine kleine
Unachtsamkeit eines Verdächtigen den Fall in die eine oder andere Richtung lenken.
»Darf ich fragen, Sir, wer meinen Kollegen und mich für diese Aufgabe vorgeschlagen hat?« Der
Detective Inspector betrachtete Rebus eine Sekunde lang mit funkelnden Augen.
»Das dürfen Sie nicht, Rebus. Was spielt das denn für eine Rolle? In einem solchen Fall ist eine
Aufgabe genauso wichtig und so notwendig wie jede andere. Das wollen wir doch mal nicht
vergessen.«
»Ja, Sir«, sagte Rebus.
»Das muss ja ein bisschen so ein Gefühl sein, als arbeite man in einem Schuhkarton, Sir«, sagte
Morton und sah sich in dem engen Raum um.
»Ja, mein Junge, ich mag zwar in einem Schuhkarton sitzen, aber ihr beide seid die Schuhe, also
setzt euch verdammt noch mal in Bewegung.«
Dieser Inspector, dachte Rebus, während er seine Liste in die Tasche steckte, scheint ein netter
Kerl zu sein. Seine scharfe Zunge war ganz nach Rebus' Geschmack.
»Keine Sorge, Sir«, sagte er jetzt, »das haben wir schnell.«
Er hoffte, dass der Inspector die Ironie bemerkte.
»Den Letzten beißen die Hunde«, sagte Morton.
Sie gingen also wieder mal streng nach den Regeln vor, obwohl dieser Fall förmlich nach neuen
Regeln schrie. Anderson schickte sie los, um nach den üblichen Verdächtigen zu suchen -
Familienangehörige, Bekannte, Leute mit entsprechenden Vorstrafen. Im Präsidium würde man jetzt
sicherlich die einschlägigen Pädophilenkreise unter die Lupe nehmen. Rebus hoffte, dass reichlich
Anrufe von Spinnern hereinkamen, die Anderson alle durchgehen musste. Denn die gab es fast immer;
Anrufer, die das Verbrechen gestanden; Anrufer, die angeblich über übersinnliche Kräfte verfügten
und helfen wollten, mit dem Verstorbenen in Kontakt zu treten; Anrufer, die einen ganz
offenkundig auf eine falsche Fährte lenken wollten. Sie alle wurden von vergangener Schuld und
gegenwärtigen Fantasien getrieben. Aber vielleicht traf das ja auf jeden zu.
Rebus hämmerte beim ersten Haus auf seiner Liste gegen die Tür und wartete. Eine übel riechende
alte Frau öffnete. Sie war barfuss, und über ihren eingefallenen Schultern hing eine Strickjacke,
die zu neunzig Prozent aus Löchern und zu zehn Prozent aus Wolle bestand.
»Was is?«
»Polizei, Madam. Es geht um den Mord.«
»Ah? Egal, was es is, ich will's nich. Verschwindense, bevor ich die Bullen hol.«
»Die Morde«, brüllte Rebus. »Ich bin von der Polizei. Ich möchte Ihnen ein paar
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