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Verborgene Muster

Titel: Verborgene Muster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Rankin
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Beispiel.«
Rebus folgte mit den Augen den Linien des Teppichs. Frühere Leben, sinnierte er, das war ja was.
In seiner Vergangenheit gab es reichlich Leben.
»Na schön«, sagte Michael. »Ich hab dir doch erzählt, dass ich letzte Woche in Edinburgh
aufgetreten bin. Also«, er beugte sich noch weiter vor, »ich hab mir da so eine Frau aus dem
Publikum geholt, eine kleine Frau mittleren Alters. Sie war mit Kollegen aus dem Büro unterwegs.
Sie ließ sich ziemlich leicht hypnotisieren, vermutlich weil sie nicht so viel getrunken hatte
wie ihre Freunde. Als sie dann in Trance war, erklärte ich ihr, wir würden jetzt eine Reise in
ihre Vergangenheit machen, in eine Zeit lange, lange, bevor sie geboren wurde. Ich bat sie, an
ihre früheste Erinnerung zurückzudenken...«
Michaels Stimme hatte einen professionellen, aber sehr einschmeichelnden Ton angenommen. Er
breitete die Hände aus, als ob er vor Publikum spielte. Rebus, der sich an seinem Glas festhielt,
merkte, wie er sich ein wenig entspannte. Er dachte an eine Episode aus ihrer Kindheit zurück,
ein Fußballspiel, ein Bruder gegen den anderen. Der warme Matsch nach einem Regenschauer im Juli,
und wie ihre Mutter mit hochgekrempelten Ärmeln diesen kichernden Knäuel aus Armen und Beinen in
die Badewanne gepackt hatte...
»... nun ja«, sagte Michael gerade, »sie fing an zu sprechen, und das in einer Stimme, die nicht
ganz die ihre war. Es war unheimlich, John. Ich wünschte, du wärst dabei gewesen. Das Publikum
war ganz still, und mir wurde kalt, dann heiß und dann wieder kalt, und das hatte nichts mit der
Heizungsanlage des Hotels zu tun. Es war mir gelungen, verstehst du. Ich hatte die Frau in ein
früheres Leben zurückversetzt. Sie war eine Nonne gewesen. Kannst du dir das vorstellen? Eine
Nonne. Und sie sagte, sie säße allein in ihrer Zelle. Sie beschrieb das Kloster und alles, und
dann fing sie an, irgendwas auf Latein zu rezitieren, und einige Leute im Publikum bekreuzigten
sich sogar. Ich war wie versteinert. Vermutlich standen mir die Haare zu Berge. Ich holte sie so
schnell ich konnte aus der Trance zurück. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Menge anfing zu
applaudieren. Und dann, wahrscheinlich aus purer Erleichterung, fingen ihre Freunde an zu lachen
und ihr zuzujubeln, und damit war das Eis gebrochen. Am Ende der Veranstaltung erfuhr ich, dass
die Frau eine überzeugte Protestantin war, noch dazu eine eingefleischte Anhängerin der Rangers,
und sie schwor Stein und Bein, dass sie kein Wort Latein kann. Aber irgendwer in ihr konnte es
offensichtlich. Das war vielleicht ein Ding.«
Rebus lächelte.
»Eine hübsche Geschichte, Mickey«, sagte er.
»Aber sie ist wahr.« Michael breitete flehend die Arme aus. »Glaubst du mir nicht?«
»Weiß nicht.«
Michael schüttelte den Kopf.
»Du musst ein ziemlich schlechter Polizist sein, John. Ich hatte etwa hundertfünfzig Zeugen um
mich. Unanfechtbar.«
Rebus konnte sich nicht von dem Muster im Teppich losreißen.
»Eine Menge Leute glauben an frühere Leben, John.«
Frühere Leben... Ja, er glaubte schon an einige Dinge... An Gott ganz gewiss... Aber frühere
Leben... Ohne Vorwarnung schrie ihn ein Gesicht aus dem Teppich an, eingesperrt in einer
Zelle.
Er ließ sein Glas fallen.
»John? Was ist los? O Gott, du siehst aus, als hättest du einen...«
»Nein, nein, es ist nichts.« Rebus hob sein Glas auf und stand auf. »Es ist nur... Mir fehlt
nichts. Es ist nur«, er sah auf seine Uhr, eine Uhr mit Ziffern, »ich sollte jetzt wohl besser
gehen. Ich hab heute Abend Dienst.« Michael lächelte schwach. Er war froh, dass sein Bruder nicht
bleiben würde, aber gleichzeitig schämte er sich für seine Erleichterung.
»Wir sollten uns bald mal wieder treffen«, sagte er, »auf neutralem Terrain.«
»Ja«, sagte Rebus und sog noch einmal den starken Geruch nach kandierten Äpfeln ein. Er fühlte
sich ein bisschen schlapp, ein bisschen zittrig, als hätte er sich zu weit von seinem Terrain
entfernt. »Das machen wir.« Ein- bis dreimal im Jahr, bei Hochzeiten, Beerdigungen oder zu
Weihnachten, am Telefon, versprachen sie sich dieses Treffen. Das Versprechen an sich war
mittlerweile zu einem Ritual geworden; man konnte es gefahrlos geben und genauso gefahrlos
ignorieren.
»Das machen wir.«
Rebus schüttelte Michael an der Tür die Hand. Während er sich an dem BMW vorbei zu seinem eigenen
Auto flüchtete, dachte er darüber nach, wie ähnlich er und sein Bruder sich

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