Verborgene Muster
Seite gingen sie die Ankunft jedes Briefes
durch - Datum, Inhalt, Art der Zustellung. Gill nahm ihre Brille ab und rieb sich seufzend die
Nasenwurzel.
»Das wäre ein zu großer Zufall, John.«
Und tief in seinem Inneren wusste er, dass sie Recht hatte. Er wusste, dass nichts jemals so war,
wie es zu sein schien, dass es nichts Willkürliches gab. »Gill«, sagte er schließlich und zerrte
an der Bettdecke, »ich muss hier raus.«
Im Auto versuchte sie ihn noch weiter auszuquetschen. Wer könnte es sein? Worin bestand die
Verbindung? Warum?
»Was soll das?«, brüllte er sie an. »Stehe ich jetzt unter Verdacht oder was?«
Sie betrachtete seine Augen, versuchte sie zu durchdringen, die Wahrheit dahinter zu fassen zu
kriegen. O ja, sie war durch und durch Detective, und ein guter Detective traut niemandem. Sie
sah ihn wie einen ausgescholtenen Schuljungen an, der immer noch nicht alle Geheimnisse
preisgegeben, immer noch nicht alle Sünden bekannt hatte. Bekenne.
Gill wusste, dass es sich nur um eine Ahnung handelte, völlig unhaltbar. Doch sie spürte, da war
etwas, vielleicht hinter diesen funkelnden Augen. Während ihrer Zeit bei der Polizei waren schon
merkwürdigere Dinge vorgekommen. Ständig passierten merkwürdige Dinge. Wahrheit war immer
merkwürdiger als Fiktion, und niemand war vollkommen unschuldig. Diese schuldbewussten Blicke,
egal wen man verhörte. Jeder hatte irgendwas zu verbergen. Meistens war es nur Kleinkram, der
unter den vielen vergangenen Jahren begraben lag. Man würde eine Gedankenpolizei brauchen, um an
solche Verbrechen heranzukommen. Aber wenn John... Wenn sich erwies, dass John Rebus in diesem
ganzen Schlamassel mit drin steckte, dann wäre... Das war zu absurd, um darüber
nachzudenken.
»Natürlich stehst du nicht unter Verdacht, John«, sagte sie. »Aber es könnte vielleicht wichtig
sein, oder?«
»Das soll Anderson für uns entscheiden«, sagte er und verfiel in Schweigen, während zugleich ein
Zittern durch seinen Körper ging.
In dem Augenblick kam Gill ein Gedanke: wenn er sich die Briefe nun selbst geschickt
hatte?
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XVIII
Er spürte, wie seine Arme anfingen zu schmerzen, und als er hinabblickte, sah er, dass das
Mädchen aufgehört hatte, sich zu wehren. Es gab diesen Punkt, diesen plötzlichen glückseligen
Punkt, an dem Körper und Geist zu begreifen begannen, dass es sinnlos war weiterzuleben. Das war
ein schöner, friedvoller Augenblick, der entspannteste Moment im ganzen Leben. Vor vielen Jahren
hatte er versucht, sich umzubringen, und genau diesen Augenblick ausgekostet. Aber im Krankenhaus
und hinterher in der psychiatrischen Klinik hatten sie alle möglichen Dinge mit ihm angestellt.
Sie hatten ihm den Lebenswillen wiedergegeben, und nun zahlte er es ihnen heim, zahlte es ihnen
allen heim. Er erkannte diese Ironie in seinem Leben und kicherte. Dann löste er das Klebeband
von Helen Abbots Mund und zerschnitt mit der kleinen Schere ihre Fesseln. Schließlich nahm er
seine praktische kleine Kamera aus der Hosentasche und machte eine weitere Sofortbildaufnahme von
ihr, eine Art Memento mori. Falls sie ihn jemals erwischten, wurden sie ihn dafür windelweich
prügeln, aber sie konnten ihn niemals als Sexualmörder brandmarken. Sex hatte nichts damit zu
tun. Diese Mädchen dienten ihm nur als Bauernopfer, ihre Namen waren ihr Schicksal. Die Nächste
und Letzte war diejenige, auf die es wirklich ankam, und wenn möglich würde er sie sich noch
heute vornehmen. Er kicherte noch einmal. Das war ein besseres Spiel als Nullen und Kreuze. Und
in beiden war er der Sieger.
----
XIX
Chief Inspector William Anderson liebte das Gefühl der Jagd, diesen ständigen Kampf zwischen
Instinkt und mühsamer Ermittlungsarbeit. Außerdem liebte er das Gefühl, seine Abteilung
uneingeschränkt hinter sich zu wissen. Wenn er Befehle erteilen und Weisheiten und Strategien
unter die Leute bringen konnte, war er ganz in seinem Element.
Selbstverständlich wäre es ihm lieber, wenn sie den Würger bereits erwischt hätten. Er war
schließlich kein Sadist. Und das Gesetz musste gewahrt werden. Trotzdem, je länger sich eine
Ermittlung wie diese hinzog, um so wunderbarer wurde das Gefühl, kurz vorm Erlegen der Beute zu
stehen, und diesen Augenblick in vollem Umfang zu genießen war eins der Privilegien einer
verantwortlichen Position.
Der Würger begann, kleine Fehler zu machen, und das war für Anderson in diesem Stadium das
Wichtigste. Erst der blaue
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