Verborgene Muster
den Nacken.
»Was hast du da?«
Er nahm ihr das Päckchen ab und stellte fest, dass es seine Sachen zum Umziehen enthielt.
»Danke«, sagte er. »Ich hab gedacht, das Hemd hier wär nicht mehr allzu sauber gewesen.«
»War es auch nicht.« Sie lachte und zog sich einen Stuhl heran. »Nichts war sauber. Ich musste
deine ganzen Sachen waschen und bügeln. Sie stellten bereits ein Gesundheitsrisiko dar.«
»Du bist ein Engel«, sagte er und legte das Päckchen zur Seite.
»Apropos Engel, was hast du denn gerade im Buch der Bücher gelesen?« Sie klopfte auf den roten
Kunstledereinband der Bibel.
»Ach, nur so ein bisschen Hiob. Ich hab das vor langer Zeit mal gelesen. Es kommt mir jetzt nur
viel beängstigender vor. Ein Mann, der zu zweifeln beginnt, auf der Suche nach einer Antwort
seine Zweifel zu Gott schreit und eine Antwort bekommt. Die Erde ist in Frevlerhand
gegeben , sagt er an einer Stelle und wozu müh ich mich sonst an einer anderen.«
»Das klingt interessant. Aber er müht sich weiter?«
»Ja, das ist das Unglaubliche.«
Der Tee kam, und die junge Krankenschwester gab Gill wie beim letzten Mal auch eine Tasse.
Außerdem gab es einen Teller Kekse.
»Ich hab dir die Post aus deiner Wohnung mitgebracht, und hier ist dein Schlüssel.« Sie hielt ihm
den kleinen Yale-Schlüssel hin, doch er schüttelte den Kopf.
»Behalt ihn«, sagte er, »bitte. Ich hab noch einen.«
Sie musterten sich gegenseitig.
»Na schön«, sagte Gill schließlich. »Ich behalte ihn. Danke.« Mit diesen Worten gab sie ihm die
drei Briefe. Er sah sie kurz durch.
»Jetzt schickt er sie mir also per Post.« Rebus riss die neueste Mitteilung auf. »Dieser Typ«,
sagte er, »verfolgt mich. Mister Knoten nenne ich ihn. Mein persönlicher anonymer
Verrückter.«
Gill wirkte neugierig, während Rebus den Brief las. Er war länger als sonst.
DU HAST ES WOHL IMMER NOCH NICHT ERRATEN, WAS? DU HAST KEINE AHNUNG. DIR FÄLLT NICHTS DAZU EIN.
DABEI IST ES FAST VORBEI. FAST VORBEI. SAG NICHT, ICH HÄTTE DIR KEINE CHANCE GEGEBEN. DAS KANNST
DU NICHT BEHAUPTEN.
UNTERZEICHNET.
Rebus zog ein kleines Streichholzkreuz aus dem Briefumschlag.
»Ah, heute ist es also Mister Kreuz. Aber Gott sei Dank ist er ja bald fertig. Wird ihm wohl
allmählich zu langweilig.«
»Was hat das alles zu bedeuten, John?«
»Hab ich dir nichts von diesen anonymen Briefen erzählt? Es ist allerdings auch keine sehr
aufregende Geschichte.«
»Wie lange geht das schon?« Gill, die gerade den Brief gelesen hatte, betrachtete jetzt den
Umschlag.
»Seit sechs Wochen. Vielleicht auch etwas länger. Warum?«
»Tja, zufällig wurde dieser Brief an dem Tag abgeschickt, an dem Helen Abbot verschwand.«
»Ach?« Rebus griff nach dem Briefumschlag und sah auf den Poststempel. »Edinburgh, Lothian, Fife,
Borders« stand darauf. Ein ziemlich großes Gebiet. Er dachte erneut an Michael.
»Du kannst dich vermutlich nicht erinnern, wann du die anderen Briefe bekommen hast?«
»Worauf willst du hinaus, Gill?« Er blickte zu ihr auf und hatte plötzlich das Gefühl, dass ihn
eine professionelle Polizistin anstarrte. »Um Himmels willen, Gill. Dieser Fall geht uns allen an
die Nerven. Wir sehen alle allmählich Gespenster.«
»Ich bin bloß neugierig, weiter nichts.« Sie las den Brief noch einmal. Es war nicht der typische
Tonfall eines Verrückten, auch nicht der Stil eines Verrückten. Das beunruhigte sie. Und als
Rebus jetzt darüber nachdachte, schien es ihm, als seien die Briefe tatsächlich jeweils zum
Zeitpunkt einer der Entführungen gekommen. Gab es da eine Verbindung, die die ganze Zeit zum
Greifen nah gewesen war? Dann war er in der Tat sehr kurzsichtig gewesen, hatte Scheuklappen
getragen. Oder es war alles bloß ein unglaublicher Zufall.
»Es ist nur ein Zufall, Gill.«
»Dann sag mir, wann die anderen Briefe gekommen sind.«
»Weiß ich nicht mehr.«
Sie beugte sich über ihn, ihre Augen wirkten riesig hinter ihrer Brille. Mit ruhiger Stimme sagte
sie: »Verbirgst du etwas vor mir?«
»Nein!«
Der ganze Krankensaal wandte sich bei seinem Aufschrei um, und er spürte, wie er rot im Gesicht
wurde.
»Nein«, flüsterte er. »Ich verberge nichts vor dir. Zumindest...« Aber wie konnte er da so sicher
sein? Bei so vielen Verhaftungen im Laufe der Zeit musste er sich doch Feinde gemacht haben, auch
wenn er die längst vergessen hatte. Aber von denen würde ihn doch keiner auf diese Weise quälen.
Bestimmt nicht.
Mit Papier und Stift und viel Nachdenken auf Rebus'
Weitere Kostenlose Bücher