Verborgene Sehnsucht
geschafft.
Er zog eine Schublade auf und nahm ein Zwillingspärchen Messer mit dreizehn Zentimeter langen Klingen heraus, die in schwarzen Lederscheiden steckten. Dann band er sich jeweils eines mit dem Griff zur Handfläche an den Unterarm. Ihr Schwesterchen – ein achtzehn Zentimeter langes Kampfmesser Marke KA-BAR – wanderte in den Schaft seiner Militärstiefel.
Jetzt war er abmarschbereit.
Mit einem Tritt schloss er die Ofentür und warf einen Blick aus den Seitenfenstern der Sarah-Jane. Bis auf das Meer bewegte sich nichts, das sanfte Klatschen der Wellen gegen die Schiffsrümpfe war das einzige Geräusch in der Werft. Aber in nur einer Stunde dämmerte der Morgen, und wenn dann die Arbeiter eintrafen, wäre es vorbei mit der Ruhe. Unschön. In vielfacher Hinsicht. Er brauchte einen Ort, an den er Ange bringen konnte, falls – nein, nicht falls … wenn – er sie fand. Und die Betriebsamkeit zwischen den Booten könnte sich als Problem erweisen.
Also …
Blieb ihm nur Plan B. Die Hütte auf seiner kleinen, aber privaten Insel.
Na klasse.
Er nahm nie jemanden dorthin mit. Noch nicht einmal Ange wusste davon, aber heute war der Tag der Neuerungen. In den letzten paar Stunden hatte sich seine ganze Welt verändert, was spielte es also für eine Rolle, dass sein geheimes Versteck bald nicht mehr so geheim sein würde? Er konnte sie nicht in ihre Wohnung bringen. Nicht, wenn er die Kreatur, die sie weggeschleppt hatte, richtig einschätzte.
Himmel, Drachen. Wer hätte das gedacht … und warum war er so wenig überrascht? Eine hervorragende Frage. Die Tatsache, dass er sie nicht beantworten konnte, hätte ihn beunruhigen sollen. Stattdessen war seine einzige Reaktion Akzeptanz … und eine Menge unterschwelliger Gefühle und Erinnerungsflashbacks.
Er hatte in letzter Zeit oft von Drachen geträumt. Sehr oft. Vor allem von einem. Ein blaugrauer Drache mit Schwimmhäuten zwischen den Klauen, glatten Schuppen und scharfen Zähnen. Ein Drache, der das Meer und das Schwimmen genauso liebte wie er selbst.
Seltsam. Aber vielleicht erklärte das, warum der Schock ausgeblieben war, als er tatsächlich einen gesehen hatte. Die entsprechende Datei hatte sein Hirn bereits heruntergeladen. Jetzt überflog er nur die Seiten, suchte nach Hinweisen, verließ sich ganz auf seine Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die anderen Leuten entgingen. Sein Geist arbeitete auf einer instinktiven Ebene, die nicht vom Intellekt regiert wurde. Und offenbar auch nicht von Logik.
Mit einem Seufzer schüttelte Mac den Kopf und ging Richtung Treppe, langsam, um das Auf und Ab in seinem Magen nicht zu verschlimmern. Er musste die Werft verlassen, bevor die Sonne aufging. Sein Captain würde auf der Suche nach ihm einen Streifenwagen hier vorbeischicken. Wahrscheinlich würde er versuchen, Mac zurück ins Krankenhaus zu schleppen. Doch als er über die letzte Treppenstufe an Deck trat, überrollte ihn eine Welle der …
Mac blinzelte, er konnte nicht mehr klar sehen. Alles, was er wahrnahm, war ein statisches Rauschen in den Ohren, es klang, als hätte man eine Radioantenne verbogen. Zwischen seinen Schulterblättern bildeten sich Schweißtropfen und liefen sein Rückgrat hinunter, dann traf ihn eine weitere Welle. Er taumelte einen Schritt zurück. Dann noch einen. Himmel, irgendetwas stimmte hier nicht. Die bohrende Übelkeit verschob sich, wurde zu etwas viel … zu etwas ganz anderem.
Weißes Licht loderte hinter seinen Augenlidern auf. Der Schmerz traf ihn wie eine Kugel, riss ihn entzwei, verbog ihn, bis es um ihn herum dunkel wurde. Ein Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, seine Muskeln zogen sich krampfhaft zusammen, so heftig, dass er fühlte, wie etwas in ihm zerbrach. Mit einem »Scheiße, verdammt«, stolperte er seitlich bis an die Reling. In dem Moment, als seine Hände das kühle Holz berührten, überwältigte ihn der Schmerz. Und als ihm das kalte, salzige Wasser in Mund und Nase drang, stand ihm Angelas Gesicht vor Augen.
Seine kleine Schwester war in Schwierigkeiten, und er konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Während der Schmerz ihn in Stücke riss, sank er immer tiefer.
Das Stahlgitter gab kaum ein Geräusch von sich, als Angela es hinter sich schloss. Sie kauerte sich zusammen und lauschte, bemühte sich, neben ihrem hämmernden Herzen etwas zu hören und schloss die Finger fest um das Teppichmesser. Sie zitterte am ganzen Körper und die Kabelbinder schnitten ihr in die Haut. Sie wollte das Plastik
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