Verbotene Früchte im Frühling
weg.
„Du sollst mich vor allem Anstößigen beschützen“, sagte sie lächelnd, „und stattdessen leitest du mich weg vom Pfad der Tugend.“
Mit dem Handrücken streichelte er ihre Wange. „Ich würde dich sehr gern vom Pfad der Tugend ablenken“, sagte er leise. „Ehrlich gesagt, würde ich dich am liebsten in den Wald führen und …“ Er schien den Faden zu verlieren, als er in ihre sanften dunklen Augen blickte. „Daisy Bowman“, flüsterte er, „ich wünschte, ich …“
Doch sie sollte niemals herausfinden, wie sein Wunsch lautete, denn abrupt wurde sie gegen ihn gestoßen, als sich eine Menschenmenge an ihnen vorbeidrängte. Alle wollten zwei Jongleuren zusehen, die Keulen und Ringe in die Luft warfen. Dabei wurde Daisy der Weinschlauch aus der Hand gerissen und zu Boden getrampelt. Beschützend legte Matthew den Arm um sie.
„Ich habe den Wein fallen lassen“, sagte sie bedauernd.
„Egal.“ Er neigte den Kopf, sodass er mit den Lippen ihr Ohr berührte. „Vielleicht wäre mir der Wein sonst zu Kopf gestiegen. Und das hättest du ausnutzen können.“
Lächelnd schmiegte Daisy sich an ihn und genoss es mit allen Sinnen, seinem starken Körper so nahe zu sein, so von ihm umarmt zu werden. „Sind meine Absichten so offensichtlich?“, fragte sie mit belegter Stimme.
Er presste seine Lippen auf die zarte Stelle hinter ihrem Ohrläppchen. „Ich fürchte, ja.“
Matthew zog sie an sich und geleitete sie durch die Menschenmenge, bis sie den freien Platz neben den Verkaufsständen erreicht hatten. Er kaufte ihr eine Tüte geröstete Nüsse, einen Marzipanhasen, eine silberne Rassel für das Baby Merritt und eine bunte Stoffpuppe für Annabelles Tochter. Als sie die High Street entlang und auf die wartende Kutsche zugingen, wurde Daisy von einer grellbunt gekleideten Frau aufgehalten, die in mehrere golddurchwirkte Schals gehüllt war und reichlich Schmuck aus gehämmertem Gold trug.
Das Gesicht der Frau erinnerte Daisy an die Apfelpuppen, die sie und Lillian als Kinder gebastelt hatten. Sie hatten in die Seiten der geschälten Frucht Nasen und Lippen geschnitzt und sie trocknen lassen, bis sie zu schön braunen und runzeligen Gesichtern geworden waren. Schwarze Perlen als Augen und ein paar weiche Wollfasern als Haare – ja, genau so sah diese Frau aus.
„Wahrsagen für die Lady, Sir?“, fragte die Frau Matthew.
Der warf einen Blick auf Daisy und zog spöttisch eine Braue hoch.
Sie lächelte, wohl wissend, dass er nichts von mystischen Dingen hielt, nichts von Aberglauben oder irgendetwas Übernatürlichem. Er war viel zu praktisch veranlagt, um an Dinge zu glauben, die sich nicht durch Tatsachen beweisen ließen.
„Nur weil du nicht an Zauberei glaubst“, meinte Daisy heiter zu ihm, „heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Willst du nicht einen kleinen Blick in die Zukunft werfen?“
„Ich warte lieber, bis sie da ist“, lautete seine etwas mürrische Antwort.
„Nur einen Schilling, Sir“, drängte ihn die Wahrsagerin.
Seufzend schob Matthew seine Päckchen im Arm zur Seite und griff in seine Tasche. „Dieser Schilling“, sagte er zu Daisy, „sollte lieber für ein Haarband oder etwas geräucherten Fisch ausgegeben werden.“
„Und das sagt jemand, der eine Fünfdollarmünze in einen Wunschbrunnen geworfen hat …“
„Einen Wunsch zu äußern ist ganz etwas anderes“, sagte er. „Das habe ich nur gemacht, um deine Aufmerksamkeit zu erregen.“
Daisy lachte. „Das ist dir gelungen. Aber …“ Sie warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu, „… dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, oder?“ Sie nahm den Schilling und gab ihn der Wahrsagerin. „Mit welcher Methode arbeiten Sie?“, fragte sie die Frau fröhlich. „Haben Sie eine Kristallkugel? Nehmen Sie Tarotkarten, oder lesen Sie aus der Hand?“
Statt einer Antwort nahm die Frau einen silbernen Spiegel aus ihrem Rockband und reichte ihn Daisy. „Betrachten Sie Ihr Bild“, sagte sie mit düsterer Stimme. „Das ist das Tor zur Welt der Geister. Sehen Sie immer weiter hinein – wenden Sie den Blick nicht ab.“
Seufzend richtete Matthew seinen Blick zum Himmel.
Gehorsam betrachtete Daisy ihr eigenes erwartungsvolles Gesicht und sah das Licht der Fackeln darüber hinwegzucken. „Werden Sie auch hineinsehen?“, fragte sie.
„Nein“, sagte die Wahrsagerin. „Ich sehe nur in Ihre Augen.“
Und dann – Stille. Am anderen Ende der Straße sangen die Leute Mailieder und schlugen Trommeln.
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