Verbotene Früchte im Frühling
KAPITEL
Rasch entdeckte Matthew, dass es eine vollkommen andere Angelegenheit war, in Bristol gemeinsam mit Lord Westcliff zu reisen, als wenn er allein in der Hafenstadt unterwegs gewesen wäre. Ursprünglich hatte er geplant, in einem Gasthaus in Bristols Stadtmitte zu wohnen. Mit Westcliff als Begleiter jedoch wählten sie ihren vorübergehenden Wohnsitz bei einer wohlhabenden Schiffsbauerfamilie. Matthew bemerkte, dass es offensichtlich viele solcher Einladungen gegeben hatte, alle stammten von wohlhabenden Familien aus der Region, die begierig darauf waren, dem Earl ein so vornehmes Quartier anzubieten wie nur möglich.
Jeder war entweder mit Westcliff befreundet oder sehnte sich danach, es zu sein. All das war die Macht, die in einem alten Adelstitel lag. Gerechterweise musste man einräumen, dass es nicht nur der Name und der Titel waren, die solche Begeisterung für Westcliff hervorriefen. Er war bekannt dafür, ein fortschrittlicher Politiker zu sein, ganz zu schweigen von seinem Ruf als geschickter Geschäftsmann, beides machte ihn zu einem Mann, der in Bristol ungemein gefragt war.
Die Stadt selbst, die mit ihrem Handelsaufkommen den zweiten Platz gleich nach London einnahm, erlebte eine Phase geradezu explosionsartiger Entwicklung. In dem Maße, wie die Handelszonen sich ausbreiteten und die alten Stadtmauern verfielen, wurden die engen Straßen verbreitert, und beinahe täglich schien es neue Hauptverkehrsstraßen zu geben. Noch auffallender war, dass erst kürzlich ein Eisenbahnsystem am Hafen fertiggestellt worden war, das die Temple Mead Station mit den Docks verband. All das zusammengenommen führte zu dem Ergebnis, dass es keinen besseren Ort in ganz Europa gab, um eine Manufaktur aufzubauen.
Widerstrebend hatte Matthew Westcliff gegenüber schließlich doch eingeräumt, dass seine Anwesenheit ihre Verhandlungen und Sitzungen wesentlich vereinfachte. Es war nicht nur so, dass Westcliffs Name ihnen sämtliche Türen öffnete, er veranlasste die Menschen gewissermaßen, ihm gleich das ganze Gebäude zur Verfügung zu stellen. Und insgeheim musste Matthew sich eingestehen, dass er von dem Earl eine ganze Menge lernen konnte, denn sein Wissen über Geschäfte und Manufakturen schien nahezu unerschöpflich zu sein.
Als sie beispielsweise über den Bau von Lokomotiven miteinander sprachen, war der Earl nicht nur mit den grundlegenden Anforderungen des Aussehens und den Techniken des Maschinenbaus vertraut, er war darüber hinaus noch in der Lage, Dutzende verschiedener Schrauben zu benennen, die bei den neuesten breitspurigen Modellen zum Einsatz kamen.
Wenn er einmal alle falsche Bescheidenheit beiseiteließ, so hatte Matthew noch nie in seinem Leben jemanden getroffen, der ihm in Bezug auf die Fähigkeit, technisches Wissen zu verstehen und umzusetzen, gleichkam. Bis er Westcliff begegnete. Das führte zu zahlreichen interessanten Gesprächen, zumindest was sie beide betraf. Jeder andere, der an diesen Gesprächen teilnahm, würde nach fünf Minuten laut schnarchend eingeschlafen sein.
Was ihn betraf, so war Marcus zu der Reise nach Bristol mit zwei Zielen vor Augen aufgebrochen. Offiziell wollte er sich bemühen, verschiedene geschäftliche Vorhaben umzusetzen – aber inoffiziell sollte er eine Entscheidung in Bezug auf Matthew Swift treffen.
Es war Marcus nicht leichtgefallen, Lillian allein zu lassen. Er hatte festgestellt, dass Ereignisse wie Geburt und Wochenbett etwas äußerst Alltägliches waren, wenn sie andere Menschen betrafen – sich jedoch für ihn selbst als ausgesprochen wichtig erwiesen. Alles an seiner kleinen Tochter faszinierte ihn – der Rhythmus ihrer Schlafens- und Wachzeiten, ihr erstes Bad, die Art, wie sie die Zehen bewegte, der Anblick, den sie an Lillians Brust bot.
Obwohl es gelegentlich vorkam, dass eine Lady der oberen Gesellschaft ihr eigenes Kind stillte, war es in jenen Kreisen jedoch weitaus verbreiteter, eine Amme dafür zu engagieren. Doch in dieser Beziehung hatte Lillian gleich nach Merritts Geburt ihre Meinung geändert. „Sie will lieber mich“, hatte sie zu Marcus gesagt. Er hatte es nicht gewagt, sie darauf hinzuweisen, dass das Baby kaum in der Lage war, dieses Thema zu diskutieren, und mit einer Amme vermutlich ebenso zufrieden gewesen wäre.
Jeden Tag nahm Marcus’ Furcht, seine Frau könnte an Kindbettfieber erkranken, ein wenig weiter ab, während Lillian immer mehr zu ihrem alten Selbst zurückkehrte, kräftig, schlank und lebensfroh.
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