Verbotene Sehnsucht
ihrer Mutter fortgeschickt hatte, war er nicht mehr beim Anwesen der Spencers aufgetaucht. Warum jetzt? Er hätte ihr doch einfach eine Nachricht schicken können, wie sie es in der Vergangenheit immer getan hatten. Warum riskierte er es, sie persönlich aufzusuchen?
Victoria ließ den Blick vorsichtig durch das Foyer schweifen, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurden. » Richten Sie ihm aus, dass ich gleich bei ihm bin. Ich muss mich vorher noch bei meiner Mutter entschuldigen. Und ich brauche Sie als Begleitung. So nahe am Haus kann ich unmöglich alleine mit ihm sprechen.«
Rivers nickte knapp und verschwand durch die Eingangstür. Victoria fand ihre Mutter am Frühstückstisch und informierte sie, dass sie eine Begleitung für einen kleinen Einkauf in der Bond Street benötige, wogegen die Marchioness nichts einzuwenden hatte. Überdies war sie vollauf damit beschäftigt, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum die Vorbereitungen für die Verlobungsfeier nur so schleppend vorankamen.
Victoria zog sich Umhang, Haube und Handschuhe an und ging zu Rivers, der bereits draußen wartete. Gemeinsam fuhren sie mit der Kutsche genau zwei Straßen weiter in die Sackgasse, wo George in seinem Landauer wartete. Die Häuser hier standen derzeit leer: Ihre Bewohner hielten sich nicht in London auf.
Victoria konnte es kaum erwarten, dass der Diener ihr aus dem Wagen half. Die Tür des Landauers wurde von innen geöffnet; sie trat näher, um vorsichtig hineinzulugen.
In dem dämmrigen Innenraum, in den nur spärlich Licht von draußen fiel, saß George groß und gerade aufgerichtet wie ein Soldat. Für ihre ausgehungerten, liebebedürftigen Sinne sah er schrecklich gut aus, wenngleich sein Bart nicht so gepflegt wirkte wie sonst, sein Gesicht schmäler war und seine braunen Augen in tiefen Höhlen lagen. Auch hatte er abgenommen, denn seine Kleidung– ein dunkelbrauner Übermantel, dunkelblaue Hosen und ein braunes Baumwollhemd unter der Weste– hing recht locker an ihm herunter.
Er bot ihr die Hand, die Victoria annahm. Zögernd und unsicher glitt sie auf den Platz neben ihm. » Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass du dich für solche Nacht-und-Nebel-Geschichten erwärmen kannst«, bemerkte sie leichthin und hoffte, ihm ein Lächeln zu entlocken.
» Es wäre überflüssig, wenn ich in deinem Haus empfangen würde«, entgegnete er steif und ohne die Spur eines Lächelns. Er musterte sie eindringlich. » Ich hatte gestern Besuch. Von Rutherford.«
Victoria zwang sich, nicht den Kopf zu senken. Ihr Herz klopfte plötzlich heftig, und sie schluckte. » Ja, das hat er mir erzählt.«
» Gehe ich recht in der Annahme, dass die Natur eures Verhältnisses sich geändert hat?« Sie erkannte die Anspannung in seiner krampfhaft steifen Haltung und den fest zusammengepressten Lippen, dem Zucken der Kiefermuskulatur.
» Er hat unsere Beziehung beendet, wie du dir denken kannst. Als du vorhin bei uns ankamst, war ich gerade auf dem Weg, meine Mutter zu informieren.«
Mit einem Nicken deutete er an, dass er verstand, was das für sie bedeutete, wie Respekt einflößend das in seinen Ohren klang. Seine Miene wurde eine Spur sanfter.
» Und wessen Kind erwartest du?«
Keine Ausflüchte, keine Andeutungen. Er ging die Sache mit einer Geradlinigkeit an, wie man sie in der Gesellschaft, in der sie sich bewegte, kaum jemals erlebte. Unwillkürlich senkte Victoria den Kopf und spürte, wie ihr das schlechte Gewissen Röte in die Wangen steigen ließ. Offenbar wusste er also auch von ihrem Zustand, hatte die Gerüchte gehört und musste früher oder später diese Frage stellen.
» Bin ich der Vater?«, fragte er, nicht mehr ganz so gelassen wie zuvor.
Victoria starrte ihn an. » Es ist deines«, wisperte sie, » ich hatte nie… sexuelle Beziehungen zu Lord Rutherford. Niemals.« Das letzte Wort betonte sie nachdrücklich, denn dieses Eingeständnis war das Mindeste, was sie dem Mann schuldete, den sie liebte– und immer lieben würde.
George ließ die Maske der Gleichgültigkeit fallen, rutschte rasch näher zu ihr und nahm ihre behandschuhten Hände in seine. » Aber warum hat er sich dann angeboten, dich zu heiraten? Schließlich hat er nie ein Interesse an dir gezeigt.«
Stockend kam ihr die Geschichte ihres Betrugs über die Lippen, und als sie zu Ende gesprochen hatte, wich seine Verwirrung einer unerschütterlichen Entschlossenheit.
» Es ist lächerlich, solche Scharaden in Szene zu setzen.
Weitere Kostenlose Bücher