Verbotene Sehnsucht
ihrer Mutter ließ keinen Zweifel daran, was sie dachte. Missy wandte sich ab und beschäftigte sich damit, den Umhang zusammenzufalten und auf das Bett zu legen.
» Er liebt mich nicht anders als Lady Victoria und will mich aus den falschen Gründen heiraten. All das spielt jedoch nicht die geringste Rolle, weil ich nicht die Absicht habe, Ja zu sagen. Es gibt nur einen einzigen Grund, weshalb er darauf besteht: Er fühlt sich ehrenhalber dazu verpflichtet.« Sie strich ein letztes Mal über den Umhang, bevor sie ihre Mutter erneut anschaute.
Die Viscountess lächelte ein wenig traurig. » Ich kenne dich, Millicent. Und ich weiß, dass du niemals leichtfertig dein Herz verschenken würdest. Aber auch, dass sich deine Gefühle nie so schnell ändern könnten.«
Missy lachte unfroh, blieb dann reglos und schweigend auf ihrem Platz sitzen. Ihre Mutter kannte sie einfach zu gut. Schließlich wandte sie sich ihr zu. » Ich möchte eine Ehe, wie du sie mit Papa hattest. Ich habe gesehen, wie er dich anbetete und du ihn. Und ich könnte es nicht ertragen, mich mit weniger zufrieden zu geben. Mama, bitte sag doch, dass du mich verstehst. Du begreifst doch auch, warum ich gezwungen war, ihn abzuweisen. Wie kann ich mich auf irgendetwas einlassen, was weniger ist als das, was du hattest?«
Die Viscountess zog die perfekt geschwungenen Brauen hoch. Ihre Augen weiteten sich, und ein Seufzer kam über ihre Lippen. » O Millicent.« Ihr Busen hob und senkte sich leicht. » Dein Vater und ich haben nicht die Ehe geführt, die du dir einbildest.« Der Ernst in ihrer Stimme ließ erkennen, welche Anstrengung sie dieses Geständnis gekostet haben musste.
Missy zog die Brauen zusammen. » Was soll das heißen?«
Die Viscountess räusperte sich leicht. » Dass dein Vater und ich nicht aus Liebe geheiratet haben.«
» Nein, das kann nicht sein«, widersprach Missy automatisch und schüttelte den Kopf.
» Doch, es stimmt, in der Tat. Als ich deinen Vater heiratete, war ich in einen anderen Mann verliebt, in den Sohn eines Arztes. Und deinen Vater verbanden amouröse Bande mit einer Tänzerin in Vauxhall. Wir wollten nicht heiraten, weder er noch ich. Nun, jedenfalls nicht einander.«
Das Geständnis der Mutter erschütterte sämtliche Vorstellungen von der idealen Ehe, die sie bislang gepflegt hatte. Sie wollte es nicht glauben. In den Jahren ihrer Kindheit war es die Liebe ihrer Eltern gewesen, die sie einhüllte. Nicht nur die zu den Kindern, sondern auch die zwischen Mann und Frau. Wie konnte ihre Mutter ihr plötzlich erklären, dass all das eine Vorspiegelung falscher Tatsachen war?
» Willst du etwa behaupten, dass ihr einander nicht geliebt habt, du und Papa?« Es schien absurd und völlig ausgeschlossen, eine solche Täuschung über Jahre hinweg durchzuhalten.
» Ja. Wir haben tiefe Sympathie und Fürsorge füreinander empfunden, aber selbst das hat eine Weile gedauert, bis es so weit war. Erst einige Jahre vor deiner Geburt, als Thomas ein kleiner Junge war, sind diese Gefühle gewachsen. Wir haben gelernt, nicht gegen die Umstände zu kämpfen, sondern uns mit ihnen abzufinden.« Der Blick ihrer Mutter schien in weite Fernen zu schweifen, und in ihren Mundwinkeln tauchte ein wehmütiges Lächeln auf. » Als ich in deinem Alter war, hatte ich nicht das Rückgrat, meiner Mutter zu widersprechen, und ordnete mich ziemlich schnell den Wünschen meines Vaters unter. Und dein Papa? Sein Vater drohte ihm an, ihn zu enterben, ihm keinen Penny mehr zu geben. Also hat er nachgegeben, und wir haben geheiratet.«
So hatte sie sich die Geschichte ihrer Eltern nicht vorgestellt. Also keine Liebe auf den ersten Blick, keine Leidenschaft, keine Wünsche, es möge für die Ewigkeit dauern. Missy atmete zittrig ein.
» Mama, James hat mir noch nicht einmal einen richtigen Heiratsantrag gemacht. Er hat gefordert, dass ich ihn heirate, oder es so formuliert, als sei es der einzige Ausweg. Er liebt mich nicht.« Seine Worte in der Nacht nach der Beerdigung zählten für sie nicht, weil sie sie nicht ernst nahm– ihm unterstellte, dass er ihr nur seinen Willen aufzwingen wollte. Leere Worte.
» Ich würde dir niemals raten, dass du James heiraten sollst, wenn du es dir nicht wünschen würdest. Und das tust du, obwohl du es abstreitest. Wie auch immer, ich bitte dich nur, gründlich nachzudenken, bevor du den Mann, den du liebst, endgültig abweist.« Die Viscountess nahm Missys Hand. Ihre grünen Augen blickten sie eindringlich an.
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